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Vivaldi embedded – Violinkonzert von Brescianello entpuppt sich als Pasticcio

Wieder einmal erweist sich der digitale Schranck No: II mit dem barocken Instrumentalrepertoire der Dresdner Hofkapelle als Reservoir für musikalische Entdeckungen. Einen faszinierenden Fund hat gerade Michael Talbot gemacht, britischer Doyen der Vivaldi-Forschung, Nutzer unserer Bibliothek seit 1967 und kürzlich sogar Interviewpartner im Geschäftsbericht 2013 der SLUB (S. 18). Wir danken Professor Talbot sehr für die freundliche Erlaubnis, seine Entdeckung bekanntzugeben.

Zu den im Schrank‑II‑Fundus häufiger vertretenen Komponisten zählt der langjährige Stuttgarter Hofkapellmeister Giuseppe Antonio Brescianello (um 1690 – 1757): 21 der rund 1.750 Handschriften entfallen auf ihn, darunter der Stimmensatz Mus.2364-O-7 und die Partitur Mus.2364-O-9, auf die Talbots Entdeckung sich bezieht. Beide Manuskripte enthalten jenes dreisätzige Violinkonzert in e-Moll, das außerdem als Nr. 7 der "XII Concerti et sinphonie … opera prima" überliefert ist, der wohl einzigen zu Lebzeiten gedruckten Werke Brescianellos. Schon bei der Katalogisierung im Rahmen des Schrank II-Projekts war aufgefallen, dass Mus.2364-O-7 einen abweichenden Mittelsatz enthält, der deutlich kürzer ist als das mit der Druckfassung übereinstimmende Pendant in Mus.2364-O-9 und anders als dieses nicht in h-Moll steht, sondern in der Ausgangstonart e-Moll.

Talbot ist es nun gelungen, den divergenten Satz in Mus.2364-O-7 zu identifizieren. Es handelt sich um das von d‑ nach e-Moll transponierte Adagio aus Antonio Vivaldis B-Dur-Violinkonzert RV 366 Il Carbonelli: ein Werk, das für den in England wirkenden Geiger Giovanni Stefano Carbonelli entstanden sein könnte und im Schrank II ebenfalls doppelt überliefert ist. Die mit Mus.2364-O-7 vorliegende Variante eines Pasticcios – vorhandene Kompositionen oder Teile von ihnen sind zu etwas Neuem zusammengefügt – ist gewiss nicht auf den Schreiber des Manuskripts zurückzuführen, den Kapellbratschisten und ‑notisten Morgenstern, sondern auf seinen "Chef" Johann Georg Pisendel (1687 – 1755). Vermutlich hatte dem legendären Konzertmeister der Dresdner Hofkapelle das berückende Adagio seines Lehrers Vivaldi schlicht und einfach mehr zugesagt als das ausgedehntere Brescianello-Original. Wie sehr Pisendel sich mit dem "Il Carbonelli"-Adagio identifiziert haben muss, lässt sich wohl auch daran ablesen, dass er die ihm vorschwebende Ornamentierung gleichsam stenografisch in die für ihn bestimmte Solostimme eingetragen hat. 

In der nächsten Ausgabe der "Studi vivaldiani", des Jahrbuchs des Istituto Italiano Antonio Vivaldi in Venedig, wird Michael Talbot persönlich und detaillierter über seine Entdeckung berichten. Hier sei abschließend hervorgehoben, wie leicht ihm dieser Fund gefallen ist. Auf der Suche nach Konkordanzen im Œuvre Vivaldis schrieb Talbot mit Hilfe der virtuellen Klaviatur des RISM-Onlinekatalogs die Anfangstöne des "Il Carbonelli"-Adagios in die erweiterte Suchmaske des auch von der SLUB (Bibliothekssigel D-Dl) "gefütterten" weltweiten Musikhandschriftennachweises:

Zu Talbots Überraschung umfasste das Rechercheergebnis nicht nur die beiden "Il Carbonelli"-Manuskripte der SLUB, sondern auch die Brescianello-Handschrift Mus.2364-O-7. Der abweichende Mittelsatz war damit schlagartig identifiziert.

Der Fund zeigt zwingend, was für ein mächtiges Suchinstrument der RISM-Onlinekatalog ist, dessen Incipitrecherche sogar transponierte Themen mühelos aufzuspüren vermag.

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