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Nach Restitution von NS-Raubgut: Buch verbleibt als "Stolperstein" in der SLUB

Die Mitarbeiter:innen des NS-Raubgut-Projektes identifizierten ein Buch aus dem Eigentum des Prager Arztes Ernst Kalmus. Nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch die Nationalsozialisten im März 1939 wurden die Mitglieder der Familie Kalmus als Juden verfolgt. Die Erben Ernst Kalmus' entschieden, das Buch der SLUB zu schenken.

Ernst Kalmus wurde am 17. Juni 1869 als letztes von vier Kindern des Ehepaars Salomon Koppelman Kalmus (1824–1885) und Marie Kalmus, geb. Wehli (1827–1895), in Prag geboren. Mit seiner Frau Elsa Kalmus, geb. John (1882 oder 1883–1942), und den drei Kindern Hans (1906–1988), Hanne Marie „Mizzi“ (1910–2002) und Ernst Georg (1913–mutm. 2000) lebte er in Prag. Das Ehepaar erzog die Kinder protestantisch.
Ernst Kalmus studierte an der Deutschen Universität Prag Medizin und erlangte 1894 den Titel „Dr. med“. Er arbeitete an verschiedenen Krankenhäusern; ab 1899 führte er eine Privatpraxis. Kalmus war zudem als Polizei- und Gerichtsarzt und zwischen 1918 und 1938 als Dozent für Gewerbehygiene an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag tätig.

Nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch die Wehrmacht im März 1939 wurden Ernst und Elsa Kalmus sowie ihre Tochter Hanne Marie und deren Ehemann Rudolf Pick als Juden verfolgt. Auf Anweisung der Gestapo teilten sie sich die elterliche Vierzimmerwohnung in Prag mit zwei anderen Familien. Das Ehepaar Kalmus wurde am 24. Oktober 1942 von Prag in das Konzentrationslager (KZ) Theresienstadt und von dort am 26. Oktober 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Hanne Marie und Rudolf Pick wurden ebenfalls 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebten die Shoa.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und dem „Anschluss“ Österreichs 1938 entschied sich Hans Kalmus aufgrund der steigenden Bedrohung für die jüdische Bevölkerung auch in der damaligen Tschechoslowakei zur Emigration. Er konnte im Januar 1939 nach London ausreisen; seine Frau Anna „Nussy“, geb. Rosenberg, und ihre gemeinsamen Söhne Peter Ignaz Paul (*1933) und Georg Ernst (*1935) konnten im Frühjahr 1939 nachkommen. Tochter Elsa (*1945) kam in England zur Welt. Ernst Georg Kalmus schloss sich der tschechischen Armee in Athen an und kämpfte unter britischem Kommando in Afrika und später unter sowjetischem Kommando in den Karpaten. Im Januar 1946 kehrte er mit seiner Frau Lotte, geb. Spiegelberg (*1923), nach Prag zurück. Ernst Georg und Lotte Kalmus wanderten im August 1949 ebenfalls nach London aus und bekamen zwei Töchter.

Das Buch Emil Hölleins „Gegen den Gebärzwang!“ enthält einen Stempel, welcher auf die Tätigkeit und Arbeitsstelle von Ernst Kalmus verweist: „Obersanitätsrat / MU Dr. Ernst Kalmus, Honorardozent der / Deutschen Technischen Hochschule / Prag II, Rodskalerstr. 43[?] / Teleph. 42960.“ Anhand dieser Angaben war eine verifizierte Zuschreibung möglich.

Seine Tochter Hanne Marie „Mizzi“ erwähnt in ihren Aufzeichnungen zur Familiengeschichte die große Büchersammlung ihres Vaters, die vor allem medizinische Bände umfasste. Das im Bestand der SLUB identifizierte Buch „Gegen den Gebärzwang!“ entspricht sowohl dem Arbeitsbereich von Ernst Kalmus als auch der thematischen Ausrichtung seiner Bibliothek.

Das Zugangsbuch der Sächsischen Landesbibliothek (SLB) aus dem Jahr 1954 weist keine Angaben zum Lieferanten des Buches auf. Vermutlich war der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) – Landesvorstand Sachsen der Lieferant, was dessen ebenfalls im Buch enthaltener Stempel indiziert. Für das Zugangsjahr 1954 findet sich ein größerer Zugang von Büchern, die diesen FDGB-Stempel tragen. Auf sie verteilen sich ca. 80 weitere Besitzmerkmale, die teilweise nachweislich tschechischen Holocaust-Opfern zuzuordnen sind. Dies lässt vermuten, dass diese Exemplare nach dem unrechtmäßigen Entzug durch die nationalsozialistischen Besatzer in einem Sammellager wie jenem in der Maisel-Synagoge in Prag zentralisiert wurden. Nach 1945 könnten diese „herrenlosen“ Bücher eventuell zum Auffüllen kriegsbedingter Bestandslücken oder für den Aufbau neu entstandener Bibliotheken wie der des FDGB verwendet worden sein.

Bei jeder Restitution entscheiden die Rechtsnachfolger:innen über den weiteren Weg des Buches: Oftmals wünschen die Nachfahren eine Rückgabe, oder es verbleibt als Schenkung oder Leihgabe im Bestand der SLUB. Die Erbengemeinschaft von Ernst Kalmus entschied, das Buch der SLUB zu schenken. Damit erinnert es wie ein „Stolperstein“ an die Verfolgung und Ermordung Ernst Kalmus' sowie die Geschichte der SLUB-Bestände. Neben den digitalen Spuren im Online-Katalog wurde ein Einleger gestaltet. Dieser enthält eine Beschreibung des Schicksals von Ernst Kalmus sowie einen QR-Code zum ausführlichen Falldossier auf dem Open Access Dokumentenserver Qucosa.

Im Fall von erwiesenem NS-Raubgut betrachtet sich die SLUB als Nachfolgerin der SLB nicht als Eigentümerin der in ihrem Bestand befindlichen Objekte und bemüht sich um eine Rückgabe an die Eigentümer:innen bzw. um andere gerechte und faire Lösungen im Sinne der Washingtoner Erklärung von 1998.

Weiterführende Links:
The Kalmus clan
Ernst Kalmus

Bildnachweis Titelbild: Titelseite in: Emil Höllein, Gegen den Gebärzwang! Der Kampf um die bewusste Kleinhaltung der Familie. Mit einem Anhang: Die geschlechtliche Aufklärung der Kinder. 2. Aufl. Berlin-Charlottenburg, 1928.

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