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Die Theresienstädter Lieder und Gedichte von Ilse Weber – Eine musikalische Lesung mit Ulrike Migdal

Die Briefe, Gedichte und Lieder der deutsch-tschechischen Schriftstellerin Ilse Weber legen Zeugnis ab von ihrem Schicksal und dem ihrer jüdischen Familie in der Zeit vor und während des Holocaust. Ulrike Migdal veröffentlichte 2008 die Werke der im Vernichtungslager Auschwitz ermordeten Schriftstellerin. In der musikalischen Lesung am 18. Februar 2020 um 18.30 Uhr verknüpft sie Ilse Webers Briefe mit deren Theresienstädter Liedern und Gedichten.

Die tschechoslowakische deutschsprachige Rundfunk- und Kinderbuchautorin Ilse Herlinger wurde am 11. Januar 1903 in Witkowitz bei Mährisch-Ostrau (Österreich-Ungarn) geboren. Bereits im Alter von 14 Jahren verfasste sie erste jüdische Märchen und Theaterstücke für Kinder und übersetzte tschechische Gedichte ins Deutsche und umgekehrt. Mit ihrem Mann Willi und den beiden Söhnen Hanuš und Tomáš „Tommy“ lebte sie in Ostrau. Nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch die Wehrmacht im März 1939 gelang es dem Ehepaar Weber, den ältesten Sohn Hanuš mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Er überlebte schließlich den Holocaust in Schweden. Am 6. Februar 1942 wurden Ilse, Willi und Tommy in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Ilse Weber arbeitete dort als Krankenschwester und schrieb für die Kinder Gedichte und Lieder. Ilse und Tommy Weber wurden am 6. Oktober 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Willi Weber überlebte den Holocaust und verbrachte in den Nachkriegsjahren gemeinsam mit seinem Sohn Hanuš in Prag.

Im Bestand der SLUB wurden im Zuge des aktuellen NS-Provenienzprojektes zwei Bände mit dem Autogramm Ilse Webers, geb. Herlinger, identifiziert. Eine Rückgabe an den Sohn Hanuš Weber ist in Vorbereitung.

Einige der Lieder und Gedichte von Ilse Weber konnten durch ihren Mann Willi und andere Überlebende des Holocaust gerettet werden. Willi Weber versteckte ca. 50 niedergeschriebene Werke in Theresienstadt und konnte sie nach der Befreiung bergen. In den ersten Nachkriegsjahren schickten Überlebende nationalsozialistischer Konzentrationslager weitere Gedichte Ilse Webers an Willi und Hanuš Weber. Sie schilderten, wie diese Gedichte und Lieder ihnen geholfen hatten, ihren Lebenswillen nicht zu verlieren.

Die Schafe von Liditz

Flockige, gelbweiße Schafe trotten die Straße entlang.
Zwei Hirtinnen folgen der Herde, durch die Dämmerung

tönt ihr Gesang.

Es ist ein Bild voller Frieden und doch bleibst du, Eilender, stehn,
als fühltest du Hauch allen Todes grausig vorübergehn.
Flockige, gelbweiße Schafe, sie sind der Heimat so fern,
verbrannt sind ihre Ställe, getötet sind ihre Herrn.

Ach, alle Männer des Dorfes, sie starben den gleichen Tod.
Ein kleines Dorf in Böhmen, und soviel Unglück und Not.
Verschleppt die fleißigen Frauen, die sorgsam die Herde betreut,
verschollen die fröhlichen Kinder, die sich an den Lämmern gefreut.
Zerstört die kleinen Häuser, in denen der Friede gewohnt.
Ein ganzes Dorf vernichtet, das Vieh nur gnädig verschont.

Das sind die Schafe von Liditz und trefflich am Platze hier,
in der Stadt der Heimatlosen das heimatlose Getier.
Umschlossen von einer Mauer, durch grausamen Zufall gesellt,
das gequälteste Volk der Erde und die traurigste Herde der Welt.
Die Sonne ist untergegangen, der letzte Strahl versinkt.
Und irgendwo bei den Kasernen ein jüdisches Lied erklingt.

 

Als Racheakt für das Prager Attentat am 27. Mai 1942 auf Reinhard Heydrich, der als „Reichsprotektor von Böhmen und Mähren“ die Verbrechen in der besetzten Tschechoslowakei organisierte, wurde am 10. Juni 1942 das tschechische Dorf Lidice vollständig liquidiert. Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Die Schafsherde von Lidice wurde nach Theresienstadt gebracht. Ilse Weber thematisiert dieses Massaker in dem Gedicht „Schafe von Lidice“. Das aus dem Konzentrationslager Theresienstadt geschmuggelte Gedicht führte zu härtesten Repressalien durch die Gestapo gegen die Gefangenen. Trotz Folter und Razzien verriet keiner der Mitgefangenen Ilse Weber als Autorin.

Die Briefe, Gedichte und Lieder von Ilse Weber spiegeln die Lebensumstände jüdischer Menschen unter den zunehmenden Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes sowie in den Konzentrationslagern wider. Sie sind ein wichtiges Zeugnis der Ausmaße nationalsozialistischer Rassenideologie und wie sich diese auf das Leben der Menschen und die gesamte Gesellschaft zersetzend und mörderisch auswirkte.


Das von Ulrike Migdal 2008 herausgegeben Buch Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt widmet sich dem Werk Ilse Webers. Es umfasst neben einem Essay zum Leben der deutsch-tschechischen Schriftstellerin ebenfalls die bis dato umfangreichste Sammlung ihrer Briefe und Gedichte. In der musikalischen Lesung in der SLUB am 18. Februar 2020 verwebt Ulrike Migdal Ausschnitte der Briefe Ilse Webers mit ihren poetischen Texten sowie den von ihr in Theresienstadt vertonten Liedern.

Die Fotografie Ilse Webers und das Gedicht "Die Schafe von Liditz" sind aus Ilse Weber: Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt. Herausgegeben von Ulrike Migdal. München: Carl Hanser Verlag 2008, S. 2 / S. 218. entnommen. 

Literaturtipps:

Ilse Weber: Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt. Herausgegeben von Ulrike Migdal. München: Carl Hanser Verlag 2008.

Ilse Weber: "Ich wandre durch Theresienstadt": Lieder für Singstimme und Klavier. Singstimme und Klavier. Herausgegeben von Winfried Radeke. Berlin: Boosey & Hawkes [u.a.] 2008.

Jana Mikota: Jüdische Schriftstellerinnen – wieder entdeckt: Ilse Weber und ihre jüdischen Märchen. In: Medaon 6 / 2012, Nr. 10, S. 1-4, http://medaon.de/pdf/MEDAON_10_Mikota.pdf (11.02.2020).

Das Projekt „NS-Raubgut in der SLUB (Erwerbungen nach 1945)“ wird von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gefördert.

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