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Gerechtigkeit schaffen, faire Lösungen finden: Ein Fazit aus (über) vier Jahren NS-Raubgut-Forschung an der SLUB

Mit dem Jahr 2020 ging auch das vorerst letzte von drei geförderten Projekten zur Provenienzforschung an der SLUB zu Ende. Zeit, zurückzuschauen, aber auch den Blick nach vorn zu wagen: Was bleibt nach insgesamt mehr als elf Jahren intensiver Forschung? Was wünschen wir uns für die Zukunft? Ein Interview mit den Projektmitarbeiter:innen Elisabeth Geldmacher, Nadine Kulbe und Robin Reschke.

Die Projektmitarbeiter:innen Nadine Kulbe, Robin Reschke und Elisabeth Geldmacher im Archiv der SLUB (©Anja Schneider)

Wir führen das Interview Mitte Dezember 2020 – einen passenderen Zeitpunkt hätten wir uns nicht aussuchen können. Denn kurz zuvor machte Jan Böhmermann im „ZDF Magazin Royal“ das Thema Provenienzforschung zum Schwerpunkt seiner Sendung, inklusive eines Interviews mit Bénédicte Savoy, der wohl renommiertesten Wissenschaftlerin auf diesem Gebiet.

Nutzen wir diese Vorlage doch direkt als Einstieg in unser Gespräch. In einem Satz: Was ist eigentlich Provenienzforschung?

Nadine Kulbe:
[lacht] Da können wir es tatsächlich direkt mit Jan Böhmermann halten: Die Provenienzforschung stellt die Fragen: „Wo kommt ein Stück her und wie kam es dazu, dass es den Besitzer wechselte?“

Seit wann schaut sich denn die SLUB die Herkunft ihrer Bestände kritisch an?

Nadine Kulbe:
Systematisch und durch geförderte Projekte seit 2009, aber es gab auch vorher bereits vereinzelte Rückgaben von Büchern etc., die man im Zuge der regulären Arbeit mit den Beständen der SLUB als Raubgut identifiziert hatte. Die Washingtoner Erklärung von 1998 gab schließlich für viele Institutionen den Anstoß, sich intensiv mit der eigenen Bestandsgeschichte auseinanderzusetzen.

Von 2009 bis 2013 beschäftigte sich das erste, vom SMWK geförderte Projekt an der SLUB mit den sog. Schlossbergungen, also Objekten, die durch die Enteignung von Großgrundbesitzern in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR nach 1945 in den Bestand der Bibliothek gekommen sind.

Somit ergab sich das zweite Projekt, das von 2011 bis 2013 von der Arbeitsstelle für Provenienzforschung (heute Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste) gefördert wurde und in welchem Bücher untersucht wurden, die von 1933 bis 1945 in die Landesbibliothek eingegangen waren.

Im vorerst letzten Projekt, das 2017 startete, schauten wir, also das aktuelle Projektteam, uns dann die Bibliothekszugänge nach 1945 an, ebenfalls gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Schon im ersten Projekt hatte sich nämlich herausgestellt, dass es auch bei diesen späteren Zugängen viele Hinweise auf NS-Raubgut gab. Diese Bücher kamen nicht direkt durch die Nationalsozialisten an die Bibliothek, sondern beispielsweise über Antiquariate.

Das hört sich nach einer wirklich spannenden Arbeit an! Aber wo habt ihr denn mit eurer Recherche begonnen? Für mich klingt das nach einem Fass ohne Boden.

Elisabeth Geldmacher:
Dank der beeindruckenden Vorarbeit der Kolleg:innen aus dem Schlossbergungsprojekt lagen uns bereits ca. 600 Merkmale vor, die verdächtig waren. Dabei handelte es sich um Stempel, Widmungen, Sprüche, Namen oder Symbole in Exlibris, die auf Eigentümer:innen hinwiesen, die von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen angehörten – Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen, Freimauerer, Gewerkschaften und Jüd:innen beispielsweise.

Ausgehend von diesen Provenienzmerkmalen haben wir uns dann die Bücher angeschaut. Ziemlich schnell haben wir dabei festgestellt, dass eine Aufteilung in Institutionen bzw. Körperschaften und Einzelpersonen die sinnvollste Lösung ist und die größten Synergieeffekte verspricht. Daher hat Nadine die Untersuchung der ersten Gruppe übernommen und ich die der Personen. 

Nach der Analyse der Provenienzmerkmale geht die Suche nach den eigentlichen Eigentümer:innen los. Dabei ist tatsächlich Google oft die erste Adresse. Sehr hilfreich sind auch genealogische Datenbanken wie beispielsweise „Ancestry“. Manchmal findet man auch in der Literatur Hinweise auf die gesuchte Person oder Institution – leider gibt es dort meist nur wenige Informationen über deren Buchbesitz. Über Stempel in Büchern oder Widmungen lassen sich häufig Wohnorte herausfinden – im Anschluss daran sind dann Gedenkbücher von Städten oder alte Adressbücher ein guter Anhaltspunkt für die weitere Suche. Auch die Datenbank der Holocaustopfer von Yad Vashem und Archivalien haben wir zur Recherche genutzt

Nadine Kulbe:
Außerdem ist die Fachcommunity sehr hilfsbereit und gut vernetzt. Es gibt ein Newsletter-Tool und das Portal Provenienzforschung, in dem man Fragen stellen und sich austauschen kann. Auch Heimatforscher:innen, beispielsweise aus regionalen Stolpersteinvereinen, haben uns unterstützt.

Ihr erinnert mich in eurem Vorgehen doch sehr an Detektive …

Nadine Kulbe:
[lacht] Vielleicht wirkt unsere Arbeit von außen betrachtet so. Manche Bestandteile – Suchen, Recherieren – wirken wie detektivisches Vorgehen und können auch sehr spannend sein, denn man steigt tief in die Geschichte von Menschen und Gruppen ein.

Elisabeth Geldmacher:
Das stimmt. Aber aufregend war es nicht immer, da man schon sehr viel Zeit vor dem Rechner verbringt. Und natürlich kann es auch mal enttäuschend sein, wenn eine Recherche ins Leere verläuft.

Was braucht man also, um ein:e gute:r Provenienzforscher:in zu sein?

Elisabeth Geldmacher:
Auf jeden Fall Geduld und Beharrlichkeit, da sich die Recherchen ganz schön in die Länge ziehen können. Und Erfahrung…

Nadine Kulbe:
Genau. Man entwickelt über die Zeit ein Gespür dafür, sich beispielsweise in Verwaltungsstrukturen vergangener Zeiten hineinzudenken: Wer könnte damals Informationen über die Person oder Organisation gehabt haben? usw. Dabei ist es auch nötig, manchmal um die Ecke zu denken.

Was, würdet ihr sagen, war das Schönste an eurer Arbeit?

Nadine Kulbe:
Das waren für mich die aufgeklärten Fälle – sowohl die, die sich als unverdächtig herausgestellt haben, als auch die, die wir tatsächlich als NS-Raubgut identifizieren konnten. Wenn wir – vielleicht sogar noch mit anderen Institutionen – Rückgaben, also Restitutionen, durchführen konnten, war das natürlich ein besonderer Erfolg. Leider war das nicht immer möglich, zum Beispiel wenn die Nachkommen einer Person nicht auffindbar waren oder wenn es eine Vereinigung nicht mehr gibt und sie auch keinen „ideellen“ Nachfolger hat.

Elisabeth Geldmacher:
Den Kontakt und den Austausch mit den Rechtsnachfolger:innen habe ich immer als besonders bewegend empfunden: Plötzlich bekam das Buch eine Geschichte und alles um es herum wurde lebendiger. Die individuellen Schicksale gehen sehr nah und die Bedeutung, die die Restitution für die Nachfolger:innen hat, wird einem richtig bewusst. Wenn man gemeinsam eine Einigung über den Verbleib eines Buches erzielen kann, ist das wirklich ein toller Erfolg.

Apropos Erfolg: Was würdet ihr als euren größten Erfolg bezeichnen?

Nadine Kulbe:
Ich denke, das war gar kein spezifischer Fall, sondern vielmehr die Sensibilisierung der Kolleg:innen im Haus, in den Abteilungen, für unser Thema.

Elisabeth Geldmacher:
Das sehe ich genauso. Beispielsweise haben sich nach einem Vortrag, den wir vor dem Bibliothekartag an der SLUB gehalten haben, die Kolleginnen bei uns gemeldet, ob wir, bevor Bücher ausgesondert werden, nicht lieber noch einmal drüberschauen sollten, falls verdächtige Stücke darunter sind. Diese Zusammenarbeit war sicher für uns alle ein großer Gewinn!

Nadine Kulbe:
Auch andere Kolleg:innen haben uns mit hilfreichen Informationen versorgt, zum Beispiel im Bereich der Bestandsgeschichte oder der Restaurierung. Und die IT dürfen wir natürlich auch nicht unerwähnt lassen.

Und was war im Gegenzug die größte Herausforderung?

Beide [lachen]:
Das waren die Zwischen- und Abschlussberichte an die Fördermittelgeber. Die ursprüngliche Förderdauer betrug nur ein Jahr – da sitzt man nach einem dreiviertel Jahr parallel zum Projektbericht schon wieder am Antrag für die Verlängerung. Dass das Projekt dann gleich um zwei Jahre verlängert wurde, war wirklich ein Vorteil!

Was bleibt nach dem Ende dieses vorerst letzten, geförderten Projekts zur Provenienzforschung an der SLUB?

Robin Reschke:
Es bleiben vielen Dinge sichtbar, sogar im Stadtbild. So haben wir in Zusammenarbeit mit dem Verein Stolpersteine für Dresden e.V. nicht nur Gedenksteine verlegen, sondern in diesem Zusammenhang auch Buchrückgaben an Nachkommen von Holocaust-Opfern durchführen können.

Manche restituierten Bücher sind schließlich als Geschenke der Rechtsnachfolger an die SLUB übergeben worden – ein Einleger im Buch erinnert an die Geschichte seiner Besitzer:innen und führt mittels QR-Code zu sog. Falldossiers auf unserem Dokumenten- und Publikationsserver Qucosa (zum Beispiel hier).

Außerdem gibt es noch weitere digitale Zeugnisse unserer Arbeit: Alle Provenienzmerkmale der SLUB (und der Stadtbibliothek Bautzen) werden in der Online-Datenbank der Deutschen Fotothek dokumentiert. Von restituierten Büchern, bei denen das Urheberrecht bereits erloschen war, haben wir mit Hilfe des Dresdner Digitalisierungszentrums (DDZ) für jedermann zugängliche Digitalisate angefertigt. Wenn das Urheberrecht dagegen sprach, haben wir zumindest die Titelseite digitalisiert.

Ein wichtiger Faktor in der Dokumentation und für die Arbeit aller Provenienzforscher:innen war das Anlegen von sog. GND-Datensätzen. „GND“ steht für „Gemeinsame Normdatei“. Das ist ein Dienst, um Normdaten im Verbund mit anderen nutzen und verwalten zu können. Personen, Körperschaften etc. erhalten eine eindeutige und nicht veränderliche ID und können dadurch sowohl untereinander als auch mit externen Datensätzen und Webressourcen, beispielsweise Wikipedia, verknüpft werden – in unserem Fall haben wir die GND-Datensätze mit den Provenienzmerkmalen in der Deutschen Fotothek verknüpft. Diese Datensätze sind deshalb so wichtig, weil durch sie Personen und Institutionen zweifelsfrei identifizierbar sind und sie somit für alle Forschenden eine einheitliche Arbeitsgrundlage schaffen können. (Ein weiterführender Artikel zu diesem Thema ist im Saxorum-Blog zu finden.)

Und weil wir vorhin schon beim Erfolg waren: Dazu zähle ich auch den unabhängigen Retourblog, den wir gemeinsam mit Sebastian Finsterwalder von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin aufgebaut haben und auf dem Ergebnisse aus der Provenienzforschung nachhaltig und frei zugänglich publiziert werden können.

Auch in der Kommunikation nach außen waren wir aktiv und konnten so sicher erreichen, dass „etwas bleibt“ oder Menschen überhaupt erst auf das Thema Provenienzforschung aufmerksam wurden: Wir haben Vorträge vor Fachpublikum und der interessierten Öffentlichkeit gehalten, waren bei der Langen Nacht der Wissenschaften und dem Tag der Provenienzforschung präsent und haben mit Flyern, Blogartikeln, unserem Twitter-Account und Zeitungsartikeln viele Menschen erreicht.

Aktuell sind wir auf der Zielgeraden für die Fertigstellung der spannenden, virtuellen Ausstellung „Mind the Gap“, die die Ergebnisse unserer Arbeit noch einmal in anschaulicher Art und Weise zusammenfasst. Lasst euch überraschen!

Ich sehe: Ihr habt sehr viel geschafft und geleistet in den letzten Jahren – nicht nur für die SLUB, sondern auch für die Provenienzforschung allgemein! Trotzdem gäbe es noch sehr viel zu tun, alle verdächtigen Quellen sind längst nicht überprüft. Wie schätzt ihr die Lage ein: Wo steht die SLUB heute in Sachen Provenienzforschung?

Nadine Kulbe:
Ich denke, der Anfang ist gemacht – ein großer, erster Schritt ist getan und innerhalb Sachsens steht die SLUB schon recht gut da. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr viele Bestände gibt, die noch gar nicht in den Blick genommen wurden: Die Zeitschriften, Karten, Handschriften, Musikalien, Stenographische Sammlung bzw. generell die Sondersammlungen der Landesbibliothek sowie die Bestände der Universitätsbibliothek und der dezentralen Standorte stehen fast noch komplett aus.

Elisabeth Geldmacher:
Es ist auch kein Geheimnis, dass Bundesländer, die ihre Stellen für Provenienzforschung verstetigt haben, schon einen ganzen Schritt weiter sind. Das wäre auch unser großer, gemeinsamer Wunsch für die SLUB.

Nadine Kulbe:
Unbedingt positiv anmerken möchten wir auch die ausgezeichnete Vernetzung der SLUB in der Provenienzforschendenszene! Das ist eindeutig der Verdienst unserer Projektleiterin Jana Kocourek und auf ihre lange, beharrliche Arbeit zurückzuführen.

Und damit sind wir wieder bei den Eigenschaften, die es für eine gute Provenienzforscherin braucht! Ich danke euch dreien ganz herzlich dafür, dass ihr euch so viel Zeit für dieses Interview genommen und uns einen umfassenden Einblick in eure wichtige Arbeit gegeben habt! Alles Gute!

Beeindruckende Leistung:

Über 600 Bücher wurden seit 2018 bzw. werden noch ihren rechtmäßigen Eigentümer:innen zurückgegeben und zwar an

  • Jüdische Verfolgte
  • Politische Gruppen (Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaften)
  • Religiöse Gruppierungen (Freidenker, religiöse Gemeinden, Orden)
  • Freimaurer

1.186 Provenienzmerkmale in 2.106 Bänden wurden untersucht, davon knapp die Hälfte bewertet:

  • 17 % der Merkmale sind unverdächtig, also kein NS-Raubgut
  • 12 % der Merkmale bezeichnen Einzelfälle von Personen und Körperschaften, deren NS-Verfolgung noch nicht geklärt ist
  • 41 % der Merkmale weisen auf mutmaßlich verfolgte Personen (insb. Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Jesuiten, Freimaurer) hin, bei denen Recherchen nicht abgeschlossen werden konnten sowie auf mutmaßlich verfolgte Körperschaften, bei denen Recherchen nicht abgeschlossen werden konnten (z.B. Adelsbibliotheken, nicht-jüdische religiöse Einrichtungen; Firmen; Antiquariate/Buchhandlungen)
  • 30 % weisen eindeutig auf jüdische Personen, jüdische Institutionen, sozialdemokratische, kommunistische, gewerkschaftliche Organisationen, sonstige verfolgte Gruppen hin. 

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