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Nur Strohfeuer? Musikalische Hits des 19. Jahrhunderts

Was haben Heinrich Panofka, Joseph Ewald Reiner, Gustav Reichardt und Fritz Spindler gemeinsam? Alle sind Komponisten. Äußerst erfolgreiche Komponisten, glaubt man den Verkaufszahlen ihrer Verlage. Komponisten, die Kassenschlager am laufenden Band produzierten. Und: Komponisten, die keinen Artikel, nicht einmal Erwähnung, im Standardlexikon zur "Musik in Geschichte und Gegenwart" erhalten haben.

Ein an der SLUB Dresden und der HMT Leipzig beheimatetes Forschungsprojekt macht Aspekte der musikalischen Alltagsgeschichte sichtbar.

Dass nur Weniges Gnade vor dem Vergessen erhält und so überliefert wird, dass es auch Jahrzehnte nach seiner unmittelbaren Wirksamkeit noch erinnert, vielleicht sogar Teil eines gemeinsamen Gedächtnisses wird, ist bekannt - Manchem fehlt die Innovationskraft, Manchem das besondere "Etwas", Manches gerät zufällig unter die Räder der Geschichte, obwohl es das Zeug zum Überdauern hätte. Dennoch besteht der vergangene Alltag aus viel mehr, als aus dem, das im Gedächtnis geblieben und überliefert ist. Wie dieser Alltag geklungen haben mag, welche Musik besonders beliebt war und also besonders häufig gedruckt und verkauft wurde, um dann in Salons, guten Stuben und unzähligen Höhere-Töchter-Zimmern gespielt zu werden, untersucht derzeit ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt zur Geschmacksbildung und Verlagspolitik. Repertoireentwicklung und Kanonisierung im Spiegel der Absatzentwicklung Leipziger Musikverlage (ca. 1830–1930) beispielhaft an den Wirtschaftsdaten dreier Leipziger Musikverlage.

Das sächsische Hauptstaatsarchiv in Leipzig beherbergt einen vielversprechenden Fundus an umfänglichen Daten, die Zugang zu Mechanismen und Prämissen des Musikalienmarktes des 19. und 20. Jahrhunderts erlauben. So kann Musikgeschichte einmal von einer anderen Perspektive als sie musikalische Analysen, zeitgenössische Berichte, Rezensionen oder Selbstzeugnisse bieten, aus betrachtet werden. Das ökonomisch motivierte Verlagshandeln verspricht Einblicke in einen Markt, der, von Nachfrage und Angebot gleichermaßen bestimmt, immer neu ausgerichtet wurde und gibt damit Auskunft sowohl über Publikumsbedürfnisse wie über Verlagsstrategien - unabhängig von einer "professionalisierten" Sichtweise, wie sie beispielsweise in Rezensionen zum Ausdruck kommt.

Um diesen Phänomenen auf einer quellengesicherten Datenbasis näher zu kommen, erfassen wir in unserem Projekt zur Geschmacksbildung und Verlagspolitik seit einigen Monaten die im Hauptstaatsarchiv in Auflagen- und Absatzbüchern der Verlage Rieter-Biedermann, Friedrich Hofmeister und C. F. Peters enthaltenen Wirtschaftsdaten in einer Datenbank, um fragen zu können, welche Moden und Vorlieben zwischen 1830 und 1930 den Musikalienmarkt prägten - welche Gattungen und Besetzungen bevorzugt nachgefragt wurden, oder auch, ob es Vorlieben etwa hinsichtlich der Herkunft der begehrten Komponisten gab. Genutzt wird für diese Abfragen das Potential, das Normdatensätze für musikalische Werke in der Gemeinsamen Normdatei (GND), bieten. Hier werden kooperativ allgemeine Informationen zu musikalischen Werken an zentraler Stelle gepflegt und stehen für verschiedene Nachnutzungen bereit. Angaben zu Besetzungen, Gattungen, normierte Titel, aber auch die Herkunft, Geburtsdaten oder das Geschlecht von Komponisten werden hier erfasst und können daraufhin mit spezielleren Informationen in anderen Kontexten (in unserem Fall z.B. Auflagenhöhen der Werke in einem Verlag) verbunden werden. In unserem aktuellen Projekt greifen wir zum Teil auf schon vorhandene Datensätze der GND zurück und ergänzen sie bei Bedarf um fehlende Angaben, zum großen Teil aber legen wir diese Datensätze neu an und erweitern damit den "Datenpool" der GND in erheblichem Maße - insgesamt werden bis Projektende etwa 20.000 Datensätze qualifiziert oder neu angelegt.

Die allgemeinen Werkinformationen aus der GND übernehmen wir in unsere Projektdatenbank und verknüpfen sie dort mit den individuellen Zahlen zu Auflagenhöhe, Absätzen und Makulaturen der Werke (oder auch einzelner Werkteile oder Stimmensätze).

Noch steht das Projekt am Anfang, erst 10% der überlieferten Daten sind bisher erfasst worden - und so sind wir gespannt, ob sich der Anfangsbefund verdichtet: dass tatsächlich nicht (nur) die großen Namen wie Bach, Beethoven und Brahms das Interesse der Käufer weckten, sondern eben Werke von Komponisten, die heute kaum noch bekannt sind, vor 150 Jahren aber einen Nerv der Zeit trafen und damit genau darüber, den damaligen Zeitgeist, Auskunft zu geben vermögen.

weitere Informationen bietet auch die Projektwebsite

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