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Heinrich Schütz und die Kapellknaben: Historisches Gesangbuch für die Hofkapelle unter Johann Georg II. von Sachsen wiederentdeckt

Dresdner Schloßkapelle mit Heinrich Schütz im Kreise der Kantorei. Titelkupfer zu "Geistreiches Gesangbuch" 1676

Heinrich Schütz, einer der bedeutendsten deutschen Komponisten im 17. Jahrhundert, widmete sich nicht nur der Komposition herausragender Werke, sondern auch der musikalischen Erziehung der Dresdner Kapellknaben. Sie spielten eine zentrale Rolle in der liturgischen und höfischen Musik. Da Frauen seit dem Mittelalter vom liturgischen Gesang ausgeschlossen waren, übernahmen Knabenstimmen die hohen Partien – nicht zuletzt wegen ihrer Assoziation mit Engelsstimmen. Dies stellte die Kapellmeister vor eine enorme Herausforderung: Die Knaben mussten sängerisch noch ausgebildet werden; ihre Stimmen waren jedoch nur für kurze Zeit einsetzbar, bevor der Stimmwechsel ihre Gesangskarriere wieder beendete. Für sie schrieb Schütz in den 1620-er Jahren die ersten Chorsätze des Becker-Psalters und veröffentlichte ihn 1628 in einer ersten Fassung. Die Neufassung von 1661, die heute in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden aufbewahrt wird, stellt mit großer Wahrscheinlichkeit das einzige erhaltene Notenbuch dar, das in der Hofkapelle verwendet wurde:
Kapellknaben wurden in der Regel mit acht bis zwölf Jahren aufgenommen und konnten nach ihrem Stimmbruch im Alter von 14 bis 18 Jahren als Lehrlinge bei Instrumentisten in der Hofkapelle bleiben. Sie wohnten nicht wie die Chorknaben der Dresdner Kreuzschule oder der Leipziger Thomasschule in einem Alumnat, sondern im Haus von Schütz oder anderer Sänger und Musiker der Kapelle. Ihre Erziehung umfasste den Unterricht in Gesang und Musiktheorie sowie in Religion und Latein. Heute geht man davon aus, dass während der fast fünfzig Jahre, in denen Schütz als Hofkapellmeister wirkte, mehr als hundert Knaben in der Dresdner Kapelle ausgebildet wurden. Für die täglichen Exerzitien komponierte er Morgen- und Abendgebete, auch Tischgesänge – einfache vierstimmige Sätze über Psalmen, die sich gut als Hausmusik aufführen ließen. Mit ihnen wuchsen die Dresdner Kapellknaben seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf. Während des Dreißigjährigen Krieges wurden die Becker-Psalmen in fortlaufender Folge in den Betstunden und Wochenpredigten in der Schlosskapelle regelmäßig mittwochs und freitags gesungen. So verbreiteten sie sich auch im mitteldeutschen Raum in Kantoreien, Gelehrtenbibliotheken, Schulen und Universitäten.
Als Schütz das Gesangbuch 1661 in der Neufassung herausbrachte, wurden die Gesänge im Dresdner Gottesdienst unter Johann Georg II. von Sachsen verbindlich. Den Dresdner Kapellknaben vermachte Schütz ein eigenes Exemplar, das lange als verloren galt und nun erst wiederentdeckt wurde. Im Zuge der Vorbereitung einer Edition des Becker-Psalters in der Neuen-Schütz-Ausgabe stieß die Autorin dieses Beitrages auf das Gesangbuch, welches heute unter der Signatur Mus.1479.E.505 im Bestand der SLUB Dresden aufbewahrt wird.
Es war eine unscheinbare Notiz, die das Buch als einzigartiges Zeugnis auswies: Auf dem Buchdeckel erkennt man schwach den Schriftzug „Hoff Capelle“ und auf dem Titelblatt vermerkte der Hofkantor David Töpfer, der den Band in den 1660er Jahren inventarisierte: „Vor die Capellknaben“:

Dank der Unterstützung des US-amerikanischen Schütz-Spezialisten Joshua Rifkin brachte eine Handschriftenanalyse die Gewissheit: Der Vermerk stammt von David Töpfer, einem ehemaligen Kapellknaben, der später selbst für ihre Ausbildung verantwortlich war. Seit etwa 1666 kümmerte er sich als Kantor und Präzeptor um die musikalische Leitung der Knaben und ihren Griechisch- und Lateinunterricht, damit sie wie er selbst einmal auf der Fürstenschule Pforta weiterlernen und vielleicht an der Universität mit einem kurfürstlichen Stipendium studieren konnten.
Es war nicht ungewöhnlich, dass in Notenbüchern Aufführungsvermerke festgehalten wurden – so auch hier: „d: 18. Septembr: 1771. den Psalmen wieder angefangen Georgi“ und „d: 22. Juni 1781“. Diese Einträge belegen die lange Aufführungstradition der Becker-Psalmen, die nachweislich bis mindestens ins frühe 19. Jahrhundert im evangelischen Hofgottesdienst gesungen wurden. 1737 war dieser nach der Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus in die Sophienkirche verlegt worden. Als sich das Kapellknabeninstitut zur Ausbildungsstätte für angehende Lehrer wandelte und auf das Friedrichstädter Lehrerseminar vorbereitete, gelangte offenbar auch das Exemplar des Becker-Psalters in die traditionsreiche sächsische Lehrerbildungsanstalt. Die Umwandlung des Seminars in das Pädagogische Institut und seine Angliederung an die Technische Hochschule Dresden 1923/24 bedeutete für den evangelischen Kapellknabenchor das Ende. Das Exemplar des Becker-Psalter jedoch überlebte die Umwälzungen und fand seinen Weg in die Hochschulbibliothek des Pädagogischen Instituts, später der Technischen Universität Dresden. Anfang der 1990er Jahre wurde es schließlich in die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek überführt, wo es heute ein faszinierendes Zeugnis nicht nur für die historische Aufführungspraxis, sondern auch eine lange Tradition der Musikerziehung in Sachsen ist.
Die Musikwissenschaftlerin Dr. Beate Agnes Schmidt, Expertin für die Musik des 17. Jahrhunderts, arbeitet regelmäßig mit Quellen der SLUB und hat unter anderem im Juli 2022 eine Summer School für Nachwuchswissenschaftler:innen zu Gelegenheitsmusiken der Schütz-Zeit an der SLUB geleitet. Derzeit bereitet sie eine Edition des Becker-Psalters von Heinrich Schütz vor.
Weiterführende Literatur:
Beate Agnes Schmidt: „Vor die Capellknaben“. Schütz’ musikalischer Nachwuchs am Dresdner Hof und sein Becker-Psalter, in: Schütz-Jahrbuch 46 (2024), erscheint demnächst.
Veranstaltungstipp: Zur ersten Nacht der Bibliotheken am 4.4.2025 sind die heutigen Kapellknaben mit Live-Kurzkonzerten im Großen Lesesaal der SLUB zu erleben. Hier geht’s zum Programm.

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