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Fotograf – Chronist – Medienarchivar. Zum 80. Geburtstag von Christian Borchert (1942–2000)
„Ich will eine wahre Darstellung von Erscheinungen, und dabei geht es in erster Linie um die Erscheinung und nicht um deren Korrektur. Aber in zweiter Linie: Dass der Betrachter darüber nachdenkt, was der Chronist ihm zeigt, das will ich mir schon wünschen.“
Dass Fotografien nicht nur zum Schauen, sondern zum Nachdenken anregen – Christian Borchert löste diesen selbst formulierten Anspruch in allen Facetten seines Werks ein. Er war zentraler Protagonist ostdeutscher Fotografie, geboren in Dresden, wirkend in Berlin, der eine eindrückliche Bildsprache mit und in seinen Themen entwickelte – im Einzelbild wie in seinen Serien. Sensibler Beobachter seiner Gegenwart, richtete er sein Augenmerk nicht nur auf scheinbar Alltägliches, um daraus herauszudestillieren, was doch von größeren Zusammenhängen erzählt, sondern er suchte immer wieder die Einschreibungen der uns prägenden Vergangenheit sichtbar zu machen. Erinnerung war ein zentrales Movens seiner Arbeit, das auch seine Beschäftigung mit historischem Bildmaterial speiste. „Das Wissen, daß er nichts von sich hinterlassen wird als diese Abbilder des Lebens, die man – fast wegwerfend – Fotografien nennt, wirkt in ihm wie ein Motor, der sich nach Phasen des Nachdenkens immer wieder einschaltet“, schrieb 1985 der Lyriker Heinz Czechowski.
Nach dem frühen Tod Christian Borcherts konnte die Deutsche Fotothek neben der Berlinischen Galerie in Berlin und dem Dresdner Kupferstich-Kabinett den Großteil seines Nachlasses erwerben. Der Bestand in der Fotothek umfasst circa 230.000 Schwarzweiß-Negative, 18.000 Arbeitsabzüge sowie rund 2.300 Kleinbilddias.
Am 1. Februar wäre Christian Borchert 80 Jahre geworden. Aus diesem Anlass haben wir Menschen eingeladen, die ihm privat wie beruflich – zu seinen Lebzeiten, aber auch postum – verbunden waren und sind, ein Bild aus dem Bestand der Fotothek auszuwählen und es mit ihren Erinnerungen an Christian Borchert und Reflexionen über sein Werk zu verknüpfen.
Die Auswahl wurde ganz den Autoren überlassen, dennoch spiegeln sich in der Zusammenstellung Borcherts wesentliche Sujets wider: der gleichermaßen kritisch wie empathisch beobachtete Alltag, die Begegnung mit Künstlerinnen und Künstlern, die fortgeschriebene Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Dresden und das Subthema der Landschaft. Nicht dabei, aber unbedingt zu erwähnen ist der große Zyklus seiner Familienbilder, dessen vergleichende, soziologisch grundierte Perspektive erst im Wiederaufgreifen der in den 1980er Jahren gefundenen Thematik in den 1990er Jahren entsteht sowie seine umfassende Dokumentation zum Wiederaufbau der Semperoper in Dresden.
Viele weitere Werke Christian Borcherts können auf der Website der Deutschen Fotothek recherchiert werden.
Nähe aus der Distanz: Künstlerporträts von Christian Borchert
Christian Borcherts Künstlerporträts reichen inzwischen fast 50 Jahre zurück. Jedes einzelne zeugt von einer gesättigten Bildkultur: Die Proportionen sind ausponderiert, die teils komplizierten räumlichen Situationen auch technisch gekonnt in das Schwarzweiß der Fotografie übersetzt. An Evelyn Richters Porträt ist etwas besonders: Sie hält ihr Handwerkszeug, die Kamera, vor sich und fixiert ihr Gegenüber offensiv. Es ist ein Doppelbildnis befreundeter Fotografen. Ich lernte Evelyn Richter, die erst kürzlich verstarb, 1985 als Kollegin an der HGB Leipzig kennen, Borchert etwas davor in der Ostberliner Fotografieszene.
Andreas Krase, Kustos Fotografie/Kinematografie an den Technischen Sammlungen Dresden
Christians eigene Fotografien waren fast nie Gegenstand der Kritik unter uns. Eher haben wir uns über die Arbeiten von Paul Strand, Gary Winogrand, Uwe Steinberg und anderen auseinandergesetzt. Von eigenen Arbeiten zeigte mir Christian vor allem Fotografien aus der DDR: 100 Fotos aus der DDR war sein Titel für dies Konvolut, das posthum zur Publikation Schattentanz geführt hat. Er war überall im Land unterwegs. Besonders häufig fuhr er in seine Geburtsstadt Dresden. In Dresden-Löbtau entstand 1980 ein besonders schönes Bild, das Christians ganze Meisterschaft zeigt. Vor Gründerzeit-Häusern befand sich ein Kiosk, recht rustikal aus Holz gebaut. Ein paar Kunden stehen davor, aber neben dem Kiosk steht die Hauptperson: ein bürgerlich gekleideter Herr hat sich eine Flasche Bier gekauft und nimmt genüsslich einen tiefen Schluck daraus. Seine Aktentasche hat er sorgsam neben sich abgestellt. Hat der Herr Feierabend und belohnt sich nun für tapfer durchgestandene Büroarbeit? Nicht selten sind Christian derart prägnante Bilder gelungen, die eine ganze Welt beschreiben. Er mochte seine Mitmenschen und hat sie mit Zuneigung abgelichtet. Zu einer anderen Fotografie – ein Ehepaar hat sich auf ihrer Fensterbank eingerichtet, um die Welt da draußen zu betrachten – teilte mir Christian mit, da habe er sofort gewusst, dass ihm ein gutes Bild gelungen sei und sich an der nächsten Ecke zur Belohnung ein Bier geleistet. So ist das Bild hier auch eine Art Selbstporträt.
Hansgert Lambers, Fotograf und Verleger
Wendezeit
Wir lernten Christian Bochert 1995 auf Rat von Ulrich Domröse (Berlinische Galerie) kennen. Meine Frau Gabriele Nette hatte für ihre Lehre an der Hochschule einen guten Dokumentarfotografen gesucht – und dank dieser Vermittlung rasch gefunden. Im Jahr darauf kauften wir, nach seiner großen Ausstellung Zeitreise im Stadtmuseum, von Borchert einen Abzug dieser Nachtaufnahme. Ein Bild der ihm noch nicht wieder, uns noch nicht vertrauten Stadt: Metapher der Ungewissheit. Seither begleitet es uns, als Erinnerung an den Fotografen und an Dresden.
Wolfgang Hesse, Leiter der Deutschen Fotothek von 1999 bis 2003
Auf den ersten Blick mag Christian Borchert wie ein Fotograf der formalen Enthaltsamkeit erscheinen: klare Bildsprache ohne Mätzchen, ganz der Sache verpflichtet. Doch fraglos war er auch ein großer Formalist, verborgen im dokumentarischen Gewand, das er von Zeit zu Zeit ablegte oder zumindest offen trug.
Seine Neujahrskarte für 1997, für die er seine Kamera von den Elbwiesen am Ostragehege zurück zur Stadt gerichtet hat, ist eine Probe aufs Exempel. Die schwebende Weite dieses Blicks, die sich in zartesten Lineaturen und feinsten Grauabstufungen niedergeschlagen hat, zeugt von einem Auge, in dem der Inhalt wie von selbst zur Form gerinnt.
Bertram Kaschek, Kurator der Ausstellung Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung im Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2019/20
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