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Neu Sehen! Eine Ausstellung und eine Wiederentdeckung

Heute, am 30. Juni 2021, eröffnet im renommierten Frankfurter Städel Museum die Ausstellung „Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“. Prominent vertreten sind zwei fotografische Positionen aus der Deutschen Fotothek.

Karl Theodor Gremmler: Borgward, 1938. Eigentümer: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek

Ungewöhnliche Perspektiven, Kontraste und Blickwinkel als Ausdruck sich rasant verändernder Lebensumstände: In den 1920er Jahren eröffneten sich für Fotograf:innen zahlreiche neue Tätigkeitsgebiete, von Illustrierten Zeitschriften und dem neuen Genre der Fotobücher bis hin zur Werbung. Als Schlagwort für diese moderne Ästhetik steht der Begriff „Neu Sehen“ – eine Aufforderung, die man gleichermaßen auf das Fotografieren wie auf das Betrachten beziehen kann. Die Bildsprache wurde direkter, klarer und vielfach grafischer. In ihrer nüchternen Strenge entsprach sie dem Bedürfnis einer Gesellschaft, die nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs realitätsnahe Darstellungen bevorzugte.

Als scheinbar authentisches Abbild der Wirklichkeit erkannten aber auch politische Bewegungen das Potenzial der Fotografie als Mittel zur Gewinnung und Steuerung der Massen – vor und nach 1933. Im Unterschied zur Diffamierung der Moderne in den bildenden Künsten gab es in der NS-Zeit jedoch kaum gestalterische Einschränkungen für die Fotografie – die neue Bildsprache hatte sich bereits fest im visuellen Gedächtnis etabliert und sollte auch unter nationalsozialistischen Vorzeichen für Fortschrittlichkeit stehen.

Gerade diese Kontinuitäten sind - wie die grundlegenden stilistischen Tendenzen der 1920er und 1930er Jahren - Gegenstand der Ausstellung und des umfangreichen begleitenden Katalogbands.

Unter den über 100 dort präsentierten Fotografien finden sich prominente Vertreter:innen des Mediums wie Alfred Ehrhardt, Hans Finsler, Lotte Jacobi, Felix H. Man, Albert Renger-Patzsch, Erich Salomon, August Sander, Umbo, Paul Wolff oder Yva sowie eine Reihe kaum noch bekannter wie Carl Albiker, Karl Theodor Gremmler und Paul W. John. Die umfangreichen Nachlässe der beiden Letztgenannten befinden sich in der Deutschen Fotothek. Insbesondere bei Karl Theodor Gremmler (1909-1941) handelt es ich um eine echte, ästhetisch wie medienpolitisch hochinteressante Wiederentdeckung eines einst erfolgreichen Bildautors: Anlässlich der Frankfurter Ausstellung präsentiert die Deutsche Fotothek erstmals 7.600 frisch digitalisierte Fotografien aus dem kürzlich erworbenen, insgesamt 19.000 Aufnahmen umfassenden Werk des früh verstorbenen Fotografen, von dem bis vor wenigen Monaten nicht einmal mehr die Lebensdaten bekannt waren.

Karl Theodor Gremmler wurde am 4. Januar 1909 in Hannover geboren, über seine Jugendzeit ist bislang nichts bekannt. Nachweisbar ist, dass Gremmler, zu diesem Zeitpunkt noch arbeitsloser Reklame-Kaufmann, als Autodidakt ab Herbst 1932 in Bremen tätig war. Ein genauerer Blick auf seine ersten Negative zeigt, dass er sich zu Beginn seiner fotografischen Tätigkeit beinahe systematisch an der Formensprache des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit sowie an den Gestaltungsprinzipien des Bauhaus abgearbeitet hat. Diese frühesten Aufnahmen lassen vielfältige motivische wie stilistische Anlehnungen etwa an Albert Renger-Patzsch, Aenne Biermann, Ilse Bing oder auch an Hein Gorny deutlich erkennen. Bereits im März 1933 gelang es ihm, eine seiner Aufnahmen als Titelbild der Werkbund-Zeitschrift „Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit“ zu platzieren. Wenig später, ab Juni 1933, erscheinen seine Fotografien regelmäßig, vielfach als Cover-Abbildungen, im „Nordsee Magazin“,  der auflagenstarken (bis 252.000 Ex.) Kundenzeitschrift der Nordsee - Deutsche Hochseefischerei AG. Abgedruckt wurden nicht nur seine die Ästhetik der Moderne fortschreibenden Aufnahmen, sondern auch Fotomontagen als wesentliches Stilmittel des Neuen Sehens, die im ersten Jahr der NS-Diktatur noch als probates Werbe- und Agitationsinstrument einsetzbar waren.

Dieser recht schnelle Erfolg Gremmlers darf als typisch für die Umbruchsituation nach der ‚Machtergreifung‘ betrachtet werden. Nach der Arisierung der Branche durch das Schriftleitergesetz und der Emigration führender Köpfe bestand eine hohe Nachfrage nach jungen Bildjournalisten. Das „Nordsee Magazin“, das Gremmler Raum auch für Experimente und künstlerisch ambitionierte Fotografien bot, war auf die Erhöhung des Fischkonsums als zentrales Anliegen der Firma und als ernährungswirtschaftliches Staatsziel ausgerichtet. Insofern waren die Aufnahmen Gremmlers, der nie NSDAP-Mitglied war, von Beginn an sehr unmittelbar in die Propagandamaschinerie eingebunden, mussten sich gleichsam „zwischen Avantgarde und Staat“ behaupten.

Seine folgende Publikation, der umfangreiche Bildband „Tagewerk und Feierabend der schaffenden deutschen Frau“ (1936) führte zur Aufnahme Gremmlers in die exklusive Gesellschaft Deutscher Lichtbildner (GDL). Neben seinem propagandistischen Zweck bot das viersprachig erschienene, als Facette deutscher Auslands-Propaganda im Olympia-Jahr zu verstehende Buch dem Fotografen weiteren Raum für seine moderat-moderne Bildsprache: Blicke von oben, diagonale Reihung, Aus- und Anschnitte, Untersichten. Die Publikation zeigt, wie kompositionelle Grundmuster der Ende der 1920er Jahre entwickelten Moderne in Symbolketten und Bedeutungsmuster des NS-Staates eingepasst wurden.

Im gleichen Jahr wurde Gremmlers Schaffen in einer rund 200 Arbeiten umfassenden Einzelausstellung im Oldenburgischen Landesmuseum gewürdigt, die im Anschluss im Folkwang Museum Essen gezeigt worden ist. Obwohl es ihm also offenbar gelungen war, sich auch als Fotokünstler zu profilieren, blieb seine Tätigkeit für die Industrie sein wichtigstes Standbein. Er übernahm Werbeaufträge für zahlreiche Firmen (AEG – Andersen und Co – Bahlsen – Blaupunkt – Borgward – Elbeo – Kaffee HAG – Kaffee OGO – Nordsee AG – Telefunken – Wanderer – u.v.m.) und etablierte sich als „Ein Meister der Werbephotographie“, so im Juli 1937 der Titel eines Portfolios in der Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“.

Den künstlerischen Kulminationspunkt in Gremmlers Schaffen stellt zweifellos der 1939 vorgelegte Bildband „Männer am Netz“ dar. Erschienen in dem auf Fischwirtschaft spezialisierten Verlag von Hans A. Keune ist es beileibe kein Sachbuch, vielmehr ein später Höhepunkt der Neuen Fotografie, ein Fotobuch konzipiert aus Sicht eines Fotografen, mit dezidiert modernem Layout und mit zu diesem Zeitpunkt geradezu provokanter Bildsprache. Wie etwa in „See Sand Sonne“ von Arvid Gutschow (1930) enthält es kaum Gesamtansichten, vielmehr starke Nahsichten, ungewöhnliche Ausschnitte, harte Schatten, Schräg- und Untersichten sowie Blicke von oben. Die Konvention mittiger Tafelanordnung wird durchbrochen, das visualistische Prinzip konsequent umgesetzt, auf Bildlegenden innerhalb der Seitenabwicklung wird verzichtet.

Gremmlers - für die avancierte Werbe- und Industriefotografie der 1930er Jahre insgesamt kennzeichnenden - moderaten Formen der Moderne waren zwischen Werbung und Verbrauchslenkung, zwischen betrieblicher Selbstinszenierung und staatlicher Wirtschaftspolitik neben der Erfüllung ökonomischer Aufgaben als visuelles Kommunikationsmittel auch zur Herstellung eines positiven Verhältnisses der Bürger zum Staat sichtlich geeignet, wie Jens Bove, Leiter unserer Deutschen Fotothek, in seinem Katalogbeitrag „Fortschrittliche Reaktion. Moderne Fotografie zwischen Politik und Industrie“ zur Ausstellung resümiert.

Wer es trotz des überaus spannenden Themas in den nächsten Monaten nicht nach Frankfurt schafft, ist herzlich eingeladen, die Fotografie der 1920er und 1930er in der Bilddatenbank der Deutschen Fotothek zu durchstöbern.


NEU SEHEN. DIE FOTOGRAFIE DER 20ER UND 30ER JAHRE
Städel Museum Frankfurt, 30. Juni bis 24. Oktober 2021

Katalog zur Ausstellung

Zu Werk und Biografie von Karl Theodor Gremmler

Unsere Highlights zu Karl Theodor Gremmler

Das Fotobuch „Männer am Netz“ (1939) in der Rubrik „Fotoliteratur digital“ bei arthistoricum.net

Zu Werk und Biografie von Paul W. John
 

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