„Opa erzählt vom Krieg“, oder: Als Autor dieses Blogpostings möchte ich erstmal kurz davon plaudern, wie es sich in den 1990er Jahren in einer wissenschaftlichen Bibliothek angefühlt hat. (Ich war dabei, als studentische Hilfskraft, damals!!) Damals – da sah es so aus, als könnten, ja müssten die MitarbeiterInnen wissenschaftlicher Bibliotheken die „Gatekeeper des Wissens“ bleiben. Aus den Abos für gedruckte Zeitschriften waren Subskriptionen digitaler Zeitschriften geworden, an die man nur hinter den Lizenz-Paywalls der Bibliotheken kam. Um „ordentlich“ zu recherchieren kam man nicht umhin, sich – von BibliothekarInnen natürlich – die Verwendung einiger – ebenfalls lizensierter! – Datenbanken erklären zu lassen.
Wie sehr hat sich die Welt seitdem geändert! Von der Recherche über den Zugriff auf die wissenschaftlichen Materialien bis hin zu deren Auswertung und Weiterverarbeitung gibt es mittlerweile hunderte Tools, von denen die meisten kostenlos im Netz zur Verfügung stehen. Auf die Frage, wo und wie denn die „ordentliche“ Recherche stattzufinden habe, gibt es überhaupt keine leichte, einfache Antwort mehr. Ganz zu schweigen vom Content selbst. Irgendwann war plötzlich viel vom Phänomen Open Access zu hören, und heute dreht sich die Diskussion bereits um die Frage, zu welchen Konditionen und wann genau die vollständige Transformation des Publizierens in wissenschaftlichen Fachzeitschriften nach „Open“ zu erwarten ist.
Wie unter einem Brennglas konnte man die Auswirkungen des offenen Webs auf den Umgang mit wissenschaftlichen Informationen in den vergangenen 15 Jahren anhand der Wikipedia beobachten. Greifen wir drei Datenpunkte aus den vergangenen zwei Jahren heraus:
- An jedem beliebigen Tag benutzen 10,5% aller Deutschen ab 14 Jahren die Wikipedia. (MedienVielfaltsMonitor II/2015)
- 42% aller Jugendlichen (12 bis 19 Jahre alt) in Deutschland lesen regelmäßig Wikipedia, 11% täglich. (JIM-Studie 2015)
- 94% der MitarbeiterInnen deutscher Hochschulen und Universitäten nutzen Wikipedia beruflich. (Pscheida et al 2014)
Insbesondere den letzten Punkt finde ich beeindruckend. Auch wenn manche von denen, die heute in Lehre und Forschung arbeiten, noch keine Sprache dafür gefunden haben: Zumindest stillschweigend ist die Wikipedia anscheinend zu einem der großen Wegweiser im Land der wissenschaftlichen Information geworden. Ein Online-Lexikon, dessen Inhalt komplett unter freien Lizenzen steht, und bei dessen kollaborativer Bearbeitung die traditionelle Ökonomie wissenschaftlicher Anerkennung außer Kraft gesetzt zu sein scheint.
Die vielen Formen, in denen das gemeinschaftliche Pflegen einer solchen Wissensbasis heute stattfindet, sind näherer Betrachtung wert. Nicht nur für die (Hochschul-)Lehre, denn Wikipedia wirkt natürlich in die Lehre zurück, und von der Berührung zwischen beiden können alle Beteiligten profitieren. Sondern auch für BibliothekarInnen: Wenn das oben gesagte zutrifft, dann müssen wir quasi umlernen. Der sicher geglaubte, stabil strukturierte Wissensschatz hinter „unseren“ Gateways – er stellt sich nun als eine Insel heraus, eine dahin schmelzende Insel in einem weiten, bewegten Ozean freien Wissens, vielfältiger Wege und Tools, und außer Kraft gesetzter Hierarchien wissenschaftlicher Arbeitsteilung und Anerkennung.
Wir an den Bibliotheken bringen etwas mit, dass sich auf diesem stürmischen Ozean als höchst nützlich erweisen könnte: Die Autonomie, den Raum und die Ruhe, die digitale Allmende auf lange Sicht mit zu hüten und zu gestalten. Aber das Manövrieren auf dem Meer des freien Wissens können wir nur gemeinsam erlernen und erproben. Wie ginge das besser als mit dutzenden unglaublich kreativen, erfahrenen WikipedianerInnen? Einen ganzen Tag lang im freien Austausch, mitten in einer der fortschrittlichsten wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands? Nicht weniger als dies bietet das
WikiLibrary Barcamp am 3. Dezember 2016 an der SLUB Dresden.
Ich bin bin geehrt und wirklich gerührt, als ein „Pate“ (so eine Art Marketing-Maskottchen) dieser Veranstaltung fungieren zu dürfen. Mit bisher 60 Angemeldeten (und was für eine bunte und vielversprechende Teilnehmenden-Liste das ist!) ist das BarCamp zwar schon gut gefüllt, aber spät Entschlossene dürften immer noch eine Chance haben sich anzumelden. Auf der Wikiseite sowie bei Twitter (unter #BINDA) wird manches auch von außen mitzuverfolgen sein.
Über den Autor: Lambert Heller ist Leiter des Open Science Lab der Technischen Informationsbibliothek (TIB). Außerdem arbeitet er beratend in den Bereichen Digitales Publizieren, Open Access, Forschungsinformationssysteme und Literaturverwaltung mit. Dieser Text steht unter der CC BY-Lizenz Creative Commons Attribution 4.0 International und erschien zuerst im Blog der TIB.
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