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Vorfahrt für digital? Warum Bibliotheken auf die Vorteile der elektronischen Form setzen

"Digital vor gedruckt" – der mittlerweile zurückgenommene Versuch der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), Nutzern in erster Linie die digitale Ausgabe eines Werkes (wenn vorhanden) zur Verfügung zu stellen, hat medial einige Debatten ausgelöst. Der FAZ-Redakteur Jochen Hieber wehrte sich in einem Artikel vom 18. November gegen die "Zwangsdigitalisierung", über den Twitterkanal @Handmedium wird eine wöchentliche Mahnwache medial begleitet. Unabhängig von den eigenen Lesegewohnheiten und Arbeitstechniken gibt es manche Gründe, die aus Sicht der DNB – und anderer Bibliotheken wie der SLUB – für eine bevorzugte Nutzung digitaler Ausgaben sprechen.

 

Als Vorteil der digitalen Form ist die Tatsache augenscheinlich, dass bei entsprechenden Lizenzverträgen mehrere Nutzer gleichzeitig auf ein Werk zugreifen können, und das bisweilen auch ortsunabhängig. Aus Sicht der Bibliotheken bieten elektronische Dokumente Vorteile im Hinblick auf den jeweiligen Archivauftrag. So ist die Nationalbibliothek die zentrale Archivbibliothek für alle deutschsprachigen Medienwerke aus dem In- und Ausland. Manche Werke sind deutschlandweit nur in den beiden Niederlassungen der DNB in Leipzig und Frankfurt am Main verfügbar. Ähnliches gilt für die SLUB, die als sächsische Landesbibliothek einen vergleichbaren Sammelauftrag für die Medien aus und über Sachsen hat. Dauerhafte Sicherung und hohe Nutzung sind zwei Aspekte, die sich nicht immer miteinander vertragen, weswegen auch in der SLUB manche Bücher nur im Haus nutzbar sind und nicht entliehen werden können. Digitale Dokumente, deren Nutzbarkeit im Rahmen eines Langzeitarchivierungsprogrammes dauerhaft gesichert ist, nutzen sich nicht ab und werden deshalb von Bibliotheken in dieser Hinsicht bevorzugt.

 

 Foto: SLUB/ Sarah Muschalek CC-BY-SA

 

Aber auch aus Nutzersicht haben solche Medien nennenswerte Vorteile. Besonders Literatur für Forschungszwecke (und hier ist, da wird jeder Philologe zustimmen, auch Belletristik zu nennen) bietet in elektronischer Form Mehrwerte, von denen frühere Generationen nur träumen konnten: Die Möglichkeiten, Textpassagen in Augenblicks Schnelle aufzufinden, sie fehlerlos für Zitate zu kopieren oder den gesamten Text mit minimalem Aufwand computerlinguistisch/statistisch zu analysieren, erleichtern die Arbeit sehr. Bibliophile Argumente (das schöne Handwerk, der Geruch von Druckerschwärze, die Einbandkunst, die erlesene Typografie, das unvergleichliche Gefühl des Blätterns durch cremeweiße Seiten) sind nicht ungültig, gehen jedoch dort, wo das Medium lediglich Träger ist und das Augenmerk auf den Inhalten liegt, am Kern der Sache vorbei. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklung von Ebook-Lesegeräten inzwischen auch ästhetische Aspekte stärker berücksichtigt, so dass auch mit einem Kindle das nichtwissenschaftliche Lesen eines Romans Vergnügen bereiten kann.

 

Insgesamt zeigt die Debatte um das digitale Medium manche Fehlschlüsse. Wenn z. B. im Feuilleton großer Zeitungen Bücher im EPub-Format als nicht zitierfähig bezeichnet werden, weil ja dort die Seitenzahlen fehlen oder nicht fest mit dem Seitenspiegel verbunden sind (ältere Leser freuen sich über die Vergrößerbarkeit der Schrift in Ebooks), so ist das Reich der "alternative facts" betreten. Seitenzahlen sind doch Hilfsmittel, um Textstellen schnell zu finden, und gerade das ist im elektronischen Format garantiert. Die Angabe von Seitenzahlen ist nur eine Möglichkeit, auf den Ort einer Textpassage in menschenlesbarer Form zu verweisen. Kapitelzahlen oder sonstige Strukturmerkmale von Texten stellen eine Alternative dar. Für das EPub-Format, das auch im wissenschaftlichen Bereich zunehmend eine Rolle spielt und z.B. von Inhaltsanbietern wie De Gruyter als alternative Ausgabeform zum herkömmlichen PDF angeboten wird, ist derzeit eine Spezifikation zur zeichengenauen Referenzierung im Entstehen: EPub Canonical Fragment Identifiers (CFIs). Aus dem Vorwort:

 

The Web has proven that the concept of hyperlinking is tremendously powerful, but EPUB Publications have been denied much of the benefit that hyperlinking makes possible because of the lack of a standardized scheme to link into them. Although proprietary schemes have been developed and implemented for individual Reading Systems, without a commonly-understood syntax there has been no way to achieve cross-platform interoperability. The functionality that can see significant benefit from breaking down this barrier, however, is varied: from reading location maintenance to annotation attachment to navigation, the ability to point into any Publication opens a whole new dimension not previously available to developers and Authors.

 

Die Möglichkeit, jedes textuelle Fragment einer EPub-Datei exakt zu referenzieren, geht somit weit über die Seitenangabe beim traditionellen Printmedium hinaus. Es bleibt abzuwarten, wie weit diese Spezifikation für Hersteller von Inhalten und Lesegeräten bzw. Software als verbindlich angesehen und umgesetzt wird. Die elektronische Form als inhärent nicht zitierfähig zu verunglimpfen ist jedenfalls bereits heute nicht haltbar.

 

Autoren: Jens Mittelbach und Martin Munke

 

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