SLUBlog
Keine Steinzeitdiät: Schwer verdauliche Meinungsverschiedenheiten aushalten... Vortrag und Diskussion am 14.11. in der SLUB
Steinzeithirne in einer Star-Trek-Welt? Ist der Veranstaltungstitel von Ihnen?
Ja, aber er ist angelehnt an ein Zitat des Soziobiologen E.O. Wilson. Darin weist er darauf hin, dass unsere Gehirne mit der rasanten technischen Entwicklung nicht mehr Schritt halten können. Vor allem die aktuellen Folgen dieses Umstandes für unsere Demokratie will ich in meinem Vortrag behandeln.
Sie vertreten also die Ansicht, dass wir an unsere Umwelt unter den Bedingungen der Digitalisierung schlecht angepasst sind?
Genau. Seit wir Menschen in der Lage sind, Kulturleistungen hervorzubringen und weiterzugeben, verändern wir unsere Umwelt viel rasanter, als die biologische Evolution für Anpassung sorgen könnte. Ein Beispiel: Menschen haben heute eine Präferenz für Süßes und Fettiges, weil unter den Bedingungen von andauernder Nahrungsknappheit jene unserer Vorfahren einen Vorteil hatten, die eine Vorliebe für diese besonders energiehaltige Nahrung ausbildeten. Unter den Bedingungen moderner Wohlstandsgesellschaften führt diese Neigung bekanntlich zu allerlei Problemen und Zivilisationskrankheiten. Biologen sprechen hier von „Fehlanpassungen“, und genau solche verorte ich in unserem Gehirn ebenfalls im Hinblick auf das Leben in Massengesellschaften und die Praxis digitaler Kommunikation.
Nehmen wir an, die Evolution verläuft tatsächlich ‚zu langsam‘ im Verhältnis zur Geschwindigkeit gesellschaftlicher Veränderungen: Dann wäre das ein bedauerlicher Befund, aber wohl kaum zu ändern, da wir den Evolutionsprozess ja nicht künstlich beschleunigen können, oder? Vielmehr müssten wir uns doch fragen, ob wir nicht vernünftigerweise versuchen sollten, die gesellschaftlichen Veränderungen aufzuhalten oder bestimmte Entwicklungen zurückzudrehen. Diese Strategie fahren bekanntlich die Paleo- und Rohkostverfechter, die überzeugt sind, unser Verdauungssystem sei noch nicht oder schlecht an die Verwertung technisch verarbeiteter Lebensmitteln angepasst.
Aus der Feststellung, dass es solche Fehlanpassungen gibt, folgt nicht direkt, dass gewissermaßen das ‚kulturelle Rad‘ zurückgedreht werden sollte. Überhaupt eignet sich die Evolutionstheorie nicht dafür, um Fragen des Sollens und der Moral zu beantworten. Dass unser Gehirn für das Leben in Gruppen mit einer Größe von etwa 150 Menschen ausgelegt ist, bedeutet ja nicht, dass wir wieder zu einem Leben in solchen Stämmen zurückkehren und die Vorzüge moderner Gesellschaften und ihrer sozialen sowie politischen Sicherungssysteme hinter uns lassen sollten. Die evolutionäre Perspektive ist aber überaus nützlich, um solche Problemlagen besser zu verstehen und Lösungen zu finden. Denn Homo sapiens zeichnet sich eben auch durch seine Fähigkeit zur Einsicht, zur Reflexion und zum Lernen aus. Sehr wohl glaube ich deshalb, dass es uns bei der Überwindung manch aktueller Krisensymptome helfen wird, sich die Begrenzungen und Verzerrungen unseres eigenen Denkens vor Augen zu führen – und nicht bloß jene auf der Seite unserer politischen Feinde.
Worin genau bestehen die zentralen Herausforderungen, an die wir nicht (oder noch nicht) hinreichend angepasst sind? Die Zumutungen des Pluralismus oder die Auswirkungen des digitalen Wandels? Sicher bedingen sich beide Phänomene gegenseitig: Die Digitalisierung verschärft den Pluralismus, den wir schlecht aushalten können, weil er uns lebensweltlich einfach zu stark verunsichert?
Nicht einer der beiden Faktoren ist allein die zentrale Herausforderung, sondern die Wechselwirkung zwischen ihnen. Demokratischer Pluralismus bedeutet ja nicht einfach nur Vielfalt, sondern auch einen gemeinsamen Grundkonsens darüber, wie aus dieser Vielfalt politisches Handeln erwachsen kann. Außerdem setzt er die Bereitschaft voraus, die eigene politische Meinung zu hinterfragen. Das fällt uns ohnehin schon schwer, zumal wenn sich an diese Überzeugungen die eigene Identität knüpft. Nicht gerade hilfreich ist da eine Medienumgebung, die durch algorithmische Filterung und eine Informationslandschaft geprägt ist, in der jede Überzeugung ihre Bestätigung findet und konstruktive Kontroversen nicht eben gefördert werden. Im Gegenteil: Die Gefahr wächst sogar, dass wir uns wieder in jenen Kampfmodus zwischen einzelnen Stämmen zurückbegeben, den wir mithilfe des demokratischen Pluralismus doch gerade überwinden wollen.
Dass die Demokratie gegenwärtig in Gefahr sei, ist ein vielzitierter – ich möchte fast sagen – ‚Gemeinplatz‘. Sind Sie einer von denen, der sie ‚retten‘ möchte? Auch damit wären Sie bekanntlich nicht allein. Was ist Ihre Mission?
Die Mission von Wissenschaftlern sollte es sein, als Gegenleistung für umfangreiche Transferzahlungen die eigene Expertise in den Dienst der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu stellen. Zurzeit knirscht es gewaltig im Räderwerk unserer eigentlich doch so gut konstruierten Demokratie. Darüber, was genau da knirscht, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Definitiv mangelt es an Toleranz gegenüber Andersdenkenden und an Wegen, um aus gesellschaftlichen Konflikten politische Entscheidungen zu generieren und dabei den sozialen Frieden zu wahren. Ich bin davon überzeugt, dass eine Zusammenführung politikwissenschaftlicher und evolutionstheoretischer Perspektiven viel wertvollen Denkstoff dafür liefert, was für uns alle eine angemessene Bürgerrolle in einer so aufgeheizten Situation sein könnte.
Sie möchten mit dem Publikum ins Gespräch kommen? Haben Sie Erfahrung mit diesem Veranstaltungsformat? Gibt es Fragen und/oder Einwände, mit denen Sie fest rechnen?
Unbedingt, die Diskussion ist meist der spannendste Teil solcher Veranstaltungen – zumindest für den Vortragenden. Da ich seit vielen Jahren in der politischen Bildung und der politikwissenschaftlichen Lehre tätig bin, gehören solche Diskussionen sozusagen zu meinem Kerngeschäft. Welche Fragen und kritischen Einwände kommen, hängt stark vom Publikum ab. Unter meinen Fachkollegen sorgt etwa die evolutionäre Perspektive regelmäßig für Unbehagen, weil sie in den Sozialwissenschaften nach wie vor nicht sehr verbreitet ist. Menschen aus anderen Bereichen der Gesellschaft stoßen sich daran in der Regel überhaupt nicht. Sie interessieren sich meist mehr für die ganz konkreten Folgerungen aus solchen Analysen. Ziemlich häufig kommt die Frage, ob die Situation nicht eigentlich total verfahren ist und alles zwangsläufig den Bach runtergehen muss. Das ist dann eine willkommene Gelegenheit, auf einige wirklich gute Gründe für Optimismus hinzuweisen.
Da freuen wir uns drauf! Herzlichen Dank, wir sehen uns nächsten Donnerstag (14.11.) um 19:00 Uhr im Klemperersaal der SLUB Zentralbibliothek!
"Steinzeithirne in einer Star-Trek-Welt? Die Zumutungen des Pluralismus im digitalen Zeitalter"
Vortrag und Diskussion mit Dr. Christoph Meißelbach (TU Dresden)
14.11.2019, 19:00 Uhr, Klemperer-Saal
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung
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