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Die Erinnerung wach halten: Gegen das Vergessen, für Demokratie
„Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.“
So beginnt der erste Erwachsenenroman des in Dresden geborenen Erich Kästner (1899-1974), der 1933 sogleich auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ stand. Seit dessen Erscheinen im Oktober 1931 hatte es um das freizügige Sittengemälde „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ eine lebhafte Debatte gegeben. Während sich prominente Literaturkritiker und Schriftstellerkollegen wie Hermann Kesten oder Hermann Hesse öffentlich für das Buch einsetzten, erhob sich in konservativen Kreisen, aber auch aus dem linken politischen Spektrum vielstimmiger Protest. „Unwillkürlich drängt sich uns die Frage auf, welchen Nutzen wohl der Arbeiter aus der Lektüre dieses Buches ziehen kann“, rügte zum Beispiel Luise Kautsky in der sozialistischen „Bücherwarte“: „Gerade die Jugend wird begierig danach greifen […]. Aber wie leicht könnten diese in blendendem Stil geschriebenen Schilderungen bei noch nicht gefestigten Menschen ganz andere Wirkungen erzielen, als Kästner möglicherweise beabsichtigte.“
Wohl wegen der verbreiteten Ablehnung druckte der Verlag auf der Vorderseite des Schutzumschlags in sehr kurzer Folge wechselnde Zitate aus positiven Besprechungen ab. Während sonst maximal zwei bis drei werbende Umschlagvarianten üblich waren, gab es beim „Fabian“ 1931/32 sage und schreibe acht Varianten innerhalb einer Gesamtauflage von 30.000 gedruckten Exemplaren. Alle historischen Schutzumschläge sind heute außergewöhnliche Raritäten. Weitere Auflagen konnten erst ab 1946 folgen. Inzwischen sind längst über eine Million Exemplare gedruckt und ist unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“ 2013 sogar noch eine um einige erotische Passagen erweiterte Originalfassung erschienen.
Wo bis in die letzten Tage der Weimarer Republik öffentliche Streitgespräche und Meinungsvielfalt möglich gewesen waren, ging diese Freiheit 1933 erschreckend schnell verloren. "Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner", so lautete der zweite sogenannte Feuerspruch bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933, die Kästner als Augenzeuge selbst miterlebte. "Ich habe Gefährlicheres erlebt, Tödlicheres – aber Gemeineres nicht", schrieb Kästner später rückblickend. Ihm sei damals bald klar geworden: "Die Flammen dieser politischen Brandstiftung würden sich nicht löschen lassen." In gewissem Sinne sollte das auch niemals geschehen. Auch nachdem die letzten Zeitzeugen gestorben sind, gilt es, die Erinnerung an diese monströse Barbarei im Herzen Europas für die Nachgeborenen unbedingt wach zu halten: gegen das Vergessen, für Demokratie.
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