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Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust: Fragen von Lara Hastilow (FSJ, SLUB Dresden) an unsere Provenienzforscherinnen Elisabeth Geldmacher und Nadine Kulbe

Wachturm im Konzentrationslager Auschwitz - Link zum Bild in der Deutschen Fotothek

Dirk Reinartz: Wachturm, Auschwitz, 1993 (Deutsche Fotothek Dresden, df_dr-pos_0001384)

In den letzten Jahrzehnten sind in mehreren europäischen Ländern Holocaust-Gedenktage eingeführt worden. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist in Deutschland am 27. Januar – dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 – seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Einen Höhepunkt der Entwicklung eines zentralen Gedenktages stellt die Entscheidung der UNO aus dem Jahr 2005 dar (Resolution 60/7), den 27. Januar zum „International Holocaust Remembrance Day“ (Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust) mit Zeremonien und Gedenkveranstaltungen zu erklären. So findet beispielsweise im Deutschen Bundestag jährlich eine Gedenkstunde statt, bei der an die Opfer erinnert wird.

Vor allem das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist ein Synonym für die Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Es nimmt damit eine herausragende Stellung in der Erinnerung an den Holocaust ein. Der Internationale Holocaust-Gedenktag steht für die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Antisemitismus und Rassismus.

 

 

Diesem Anliegen ist auch unsere Ausstellung „Schicksalhafte Seiten. Bücher verfolgter Jurist:innen in der SLUB Dresden“ verpflichtet, die die Biografien von im Nationalsozialismus verfolgten Jurist:innen anhand von Lebensdokumenten und Fotografien rekonstruiert. Ausgangspunkt war eine Überprüfung des Bestandes der ehemaligen Zweigbibliothek Rechtswissenschaft der SLUB Dresden auf NS-Raubgut.

 

 

Lara Hastilow, die seit 1. September 2023 an der SLUB Dresden ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, hat mit Elisabeth Geldmacher und Nadine Kulbe, den Kuratorinnen der Ausstellung und zugleich wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen unseres aktuellen Provenienzforschungsprojekts, gesprochen.

Woher kam die Idee für diese Ausstellung?

Elisabeth Geldmacher: Wie schon unsere letzte Ausstellung „mind the gap“ war das eine gemeinsame Idee unseres Teams. Wir finden es absolut wichtig zu zeigen, was Provenienzforschung ist und warum die Suche nach NS-Raubgut auch fast 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus unbedingt nötig ist. Wir wollen zeigen, wem Bücher in einer Bibliothek gehört haben, welche Schicksale sich dahinter verbergen und wie sich so auch Spuren des NS-Raubs in den Beständen der SLUB Dresden auffinden lassen.

Wie ist die Ausstellung entstanden?

Nadine Kulbe: Das war Teamarbeit. Dr. Karina Iwe, die Ausstellungsmanagerin der SLUB Dresden, Antje Werner, die Gestalterin, und wir als Kuratorinnen haben in vielen Gesprächen gemeinsam eine Form gefunden, um „Schicksalhafte Seiten“ von Büchern zu zeigen. Das Ergebnis – die in den Regalen verteilten Boxen mit Karteikarten, die man herausnehmen kann – greift die Eigenschaft von Büchern auf, mobil und transportabel zu sein. Außerdem sind Karteikästen eines der ältesten Hilfsmittel in Bibliotheken, um Informationen zu organisieren.

Was oder wen wollt ihr mit dieser Ausstellung erreichen?

Elisabeth Geldmacher: Wir möchten den Besucher:innen klar machen, dass Bücher sehr viel mehr sind als ihr Inhalt. Viele sind über den Antiquariatsbuchhandel oder als Geschenke in die SLUB Dresden gekommen. Es gibt also frühere Eigentümer:innen. Und über die lässt sich viel erzählen. Und über sie muss viel erzählt werden, wenn sie beispielsweise im Nationalsozialismus als Jüdinnen und Juden, Sozialdemokrat:innen oder Kommunist:innen verfolgt worden sind. Sie mussten emigrieren, wurden ermordet und ihr Eigentum vom NS-Staat eingezogen. Dazu gehörten auch so unscheinbare Dinge wie Bücher, die wir heute unter anderem in Bibliotheken finden. Ganz oft sind diese Bücher das einzige, was von ihren früheren Eigentümer:innen geblieben ist.

Gab es Probleme bei der Ausstellung?

Nadine Kulbe: Vom Organisatorischen her verlief alles problemlos, vor allem, weil wir wahnsinnig viel Unterstützung von Dr. Karina Iwe und Antje Werner bekommen haben. Das Problem sind eher die Strukturen, in denen wir arbeiten. Wir arbeiten in einem zeitlich befristeten Forschungsprojekt, das vor allem vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste finanziert wird. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, Bücher zu untersuchen, Vorbesitzer:innen anhand von Stempeln, Autogrammen oder Exlibris zu dokumentieren, zu recherchieren, NS-Raubgut zu identifizieren und solche Bücher an Nachfahr:innen ihrer Eigentümer:innen zurückzugeben. Das braucht viel Zeit, meist mehr, als uns im Projekt zur Verfügung steht. Dann noch eine Ausstellung zu kuratieren, Führungen anzubieten und das Begleitprogramm aufzusetzen, sind nochmal einige Aufgaben mehr. Wir machen das, weil wir es wichtig finden, aber es geht leider auch zu Lasten unserer Hauptaufgaben.

Was ist euer Lieblingsfall in der Ausstellung?

Elisabeth Geldmacher: Es gibt eigentlich mehrere, da jeder Fall individuell ist und damit auf andere Weise berührt. Bei der Bearbeitung der Bücher aus dem Eigentum von Heinrich Veit Simon fand ich spannend, dass schon die Besitzzeichen eine Familiengeschichte erzählen können. Das in den Büchern enthaltene Exlibris gehörte Hermann Veit Simon, dem Vater von Heinrich, der Jurist war. Heinrich folgte damit dem Wunsch seines Vaters, ebenfalls diese Laufbahn einzuschlagen. Deswegen erbte er nach dem Tod des Vaters dessen Bibliothek. Während des Nationalsozialismus wurde Heinrich als Jude verfolgt und durfte nur noch jüdische Klient:innen vertreten. 1942 versuchte Heinrich, die Emigration für zwei seiner Töchter durch gefälschte Pässe zu ermöglichen. Das flog auf. Er wurde am 18. Mai 1942 in Gestapo-Haft zu Tode geprügelt. Bei der Recherche hat mich bewegt, dass anhand der überlieferten Akten und Fotografien viele Details über die Familie, ihre gegenseitige Verbundenheit und Zuneigung zu erfahren waren. Innehalten ließen mich wiederum die nationalsozialistische Brutalität und das systematische Vernichten, das sich in jedem Schicksal der einzelnen Familienmitglieder abzeichnet.

Nadine Kulbe: Einer der Fälle, die mich am meisten beeindruckt hat, ist der von Kurt Friedländer. Er war Beamter in Preußen und wurde, weil er Jude war, 1934 zwangspensioniert. 1939 ist er gemeinsam mit seiner Frau nach Großbritannien emigriert. Dort haben die beiden wohl gerade das Nötigste zum Leben verdient. Friedländers Mutter Clara wurde 1942 im Alter von 78 Jahren ins Vernichtungslager Sobibór (Polen) deportiert und ermordet. Nach dem Ende der NS-Diktatur hat Friedländer wie tausende andere Verfolgte versucht, das von den Nazis geraubte Eigentum und Vermögen wiederzubekommen. Die entsprechende Akte zu lesen hat mich wütend gemacht, obwohl ich schon öfter solche Akten gesehen habe: Die deutschen Behörden haben es den Antragstellenden schwer gemacht. Immer wieder mussten neue Dokumente und Nachweise sowie Erklärungen eingereicht werden. Sie mussten die Umstände des Verlustes, ihre Verfolgung wieder und wieder schildern. Mir vorzustellen, wie es dem zu diesem Zeitpunkt 70jährigen Kurt Friedländer damit ging, macht mich auch traurig.

Was macht diese Ausstellung so besonders?

Elisabeth Geldmacher: Besonders ist die Form, die wir für die Ausstellung gefunden haben. Es gibt ja keine Vitrinen und obwohl wir eine Ausstellung über Bücher machen, werden keine Bücher gezeigt. Es geht ausschließlich um Menschen und ihre Schicksale. Weil unsere Arbeit am Regal stattfindet, wollten wir dieses Gefühl auch in die Ausstellung bringen. Darum verteilen sich die Boxen in den Regalen im Freihandbereich. Wie Bücher können sie herausgenommen, zum Platz getragen und dort in Ruhe angeschaut werden. Wir haben auch einen Audioguide produziert, der noch mehr Informationen und Geschichten enthält. Es gibt also nicht nur etwas zu sehen und zu lesen, sondern auch zu hören.

Wie lange hat der Prozess bis zur Eröffnung gedauert?

Nadine Kulbe: Die Vorbereitung der Ausstellung – vom ersten Treffen bis zur Eröffnung – hat etwa neun Monate gedauert. Richtig intensiv waren die letzten fünf Monate. Aber nun geht es weiter: mit Führungen und dem Begleitprogramm. An jedem zweiten und vierten Mittwoch im Monat finden 16:30 Uhr Führungen statt, die die wissenschaftlichen Hilfskräfte unseres Projekts und ein langjähriger ehrenamtlicher Mitarbeiter des Buchmuseums durchführen. Elisabeth Geldmacher und ich bieten Kuratorinnenführungen an. Und bald werden wir uns auch Gedanken über die nächste Ausstellung machen, denn unsere Arbeit ist noch nicht vorbei.

Was können insbesondere junge Leute lernen?

Nadine Kulbe: Dinge zu hinterfragen, das ist wichtig, sie nicht als gegeben hinzunehmen. Wie viele Bibliotheksbesucher:innen machen sich Gedanken darüber, woher die Bücher kommen, die sie nutzen? Gerade wenn die Bücher nicht druckfrisch, sondern 90, 150, 300 Jahre alt sind? Wer waren die Menschen, denen sie vorher gehört haben? Was lässt sich über sie herausfinden und erzählen? Wer glaubt, man könne mit der ständigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus endlich aufhören, der verkennt die Realität. Es finden sich bis heute Spuren dieses menschenverachtenden Systems, auch in so unscheinbaren Dingen wie Büchern in einer Bibliothek. Sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist keine Aufgabe nur für Historiker:innen. Die Auswirkungen seiner Ideologie spüren und finden wir bis heute und damit bleibt die Provenienzforschung eine Aufgabe für die Gegenwart und die Zukunft.


 

Die Ausstellung „Schicksalhafte Seiten. Bücher verfolgter Jurist:innen in der SLUB Dresden“ ist noch bis zum 20. September 2024 zu sehen.

Wo: Interim Bibliothek Bergstraße/Open Science Lab (Zellescher Weg 21–25, 01217 Dresden)

Wann: Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr

 

 

 

 

Führungen
  • jeweils am 2. und 4. Mittwoch des Monats, 16:30 Uhr
  • Kuratorinnenführungen: am 28. Februar 2024 (Mi), 10. April 2024 (Mi), 4. Juli 2024 (Do) und 19. September 2024 (Do) jeweils 16:30 Uhr
  • Weitere Führungen nach Vereinbarung: tour@slub-dresden.de
Begleitprogramm
  • Mittwoch, 28. Februar 2024, 19:00 Uhr | Klemperer-Saal (Zellescher Weg 18, 01069 Dresden)
    „Fragl. Herkunft" — Dokumentarfilm von Janek Totaro, Johannes Kohout und Christian Riemenschneider (Göttingen), 2022
    Kuratorinnenführung & Filmvorführung in Anwesenheit der Filmemacher mit anschließendem Publikumsgespräch
    (Treffpunkt für die Führung ist 17:00 Uhr im Foyer des Interims der Bibliothek Bergstraße, Zellescher Weg 21-25)

Weitere Informationen zur Ausstellung sowie das aktuelle Begleitprogramm gibt es hier.

Die Ausstellung entstand im Rahmen des Projekts „NS-Raubgut in der SLUB. Bestände der Universitätsbibliothek Dresden“, das von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste von Herbst 2021 bis Herbst 2025 gefördert wird.

 

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