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Sonderdruck für Dr. Juliusz Frydrychewicz. Zum Tag der Provenienzforschung an der SLUB

Das aktuelle Projekt „NS-Raubgut in der SLUB (Bestände der Universitätsbibliothek)“, das vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste bis 2025 gefördert wird, widmet sich der ehemaligen Universitätsbibliothek der Technischen Universität Dresden. Das Forschungsteam untersucht systematisch die Bestände der historischen Zweigbibliotheken und dezentralen Standorte, darunter die Bibliothek der Forstwissenschaft in Tharandt. Dass es dabei um weit mehr als die Klärung der Eigentumsverhältnisse geht, lernt man jeden Tag neu dazu.

„Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist?“, fragte kurz vor seinem Tod 1940 der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin. Auf der Flucht vor den Nazis und angesichts der sich in Europa ausbreitenden Gewaltherrschaft dachte er über einen neuen Begriff der Geschichte nach – „nicht der Geschichte, sondern der Gegenwart willen.“

Wer Bücher in einer Bibliothek in die Hand nimmt, die bereits durch viele andere Hände gegangen sind, spürt diesen Hauch manchmal selbst. Wer nach der Herkunft der Bücher fragt, spürt auch den Anspruch der Vergangenheit gehört zu werden. Manchmal reicht eine Widmung oder ein anderer Besitzvermerk, um der einstigen Stimme plötzlich Gehör zu verschaffen. Die in einer Bibliothek angesiedelte Provenienzforschung sieht sich dauernd mit der Frage konfrontiert: Woher kommen die Bücher? Sie trägt ihren Beitrag zum neuen Begriff der Geschichte bei, einer Geschichte, die immer noch ungewiss ist und daher eine Aussicht auf bessere Zukunft hat, jene „schwache messianische Kraft“ in Worten Benjamins.
 

Sonderdruck für Dr. Juliusz Frydrychewicz 

Bei der Durchsicht der Altbestände in der Zweigbibliothek Forstwesen in Tharandt kam neulich ein unauffälliges Heftchen von 16 Seiten aus dem Jahre 1937 zum Vorschein, mit dem Titel: Hinweise auf die Vogelwelt des Tatra-Gebietes und der Waldkarpathen und mit folgender Widmung auf der Titelseite: 

„Herrn Dr. Juljusz Frydrychewicz / DrK.“

Dass es sich beim Schreiber der Widmung tatsächlich um Hans Kummerlöwe handelt, bestätigte ein Schriftvergleich (hier ein Dank an Frau Dr. Karin Müller-Kelwing für die Bereitstellung des Archivmaterials, ihr Buch: Zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik: die Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft in Dresden und ihre Mitarbeiter im Nationalsozialismus (2020) liefert viele wichtige Details zu Hans Kummerlöwe).

Die kleine Aufmerksamkeit im Einzeldruck eines Zeitschriftenartikels ist an sich nichts Besonderes. Seit eh und je geben sich die Fachkollegen ihre Sonderdrucke bei Gelegenheit in die Hand. Zumal hier beide, sowohl der Adressat, Juliusz Frydrychewicz geb. 1904 in Radzymin bei Warschau, wie auch der Verfasser des Aufsatzes Hans Kummerlöwe geb. 1905 in Leipzig, passionierte Naturwissenschaftler und Vogelkundler waren. Vielleicht trafen sie sich sogar persönlich auf einer der vielen ornithologischen Tagungen.

Warum jedoch steht dieses Heftchen im Magazin der forstwissenschaftlichen Bibliothek in Tharandt und nicht im Forstwissenschaftlichen Institut in Warschau?

Dr. Juliusz Frydrychewicz arbeitete schon vor dem Abschluss seines Studiums der Forstwissenschaften in Warschau 1928 als Entomologe in der Pflanzenschutzstation der Warschauer Gartenbaugesellschaft. Durch seine Publikationen aus den 1920er und 1930er Jahren zogen sich Themen des Waldschutzes und der Waldökologie wie ein roter Faden, einige Beispiele: À propos des oiseaux (1931), Einiges über die Oekologie der Waldtiere (1934), Über Vogelschutz im Forstbetriebe (1938). Die Titel der Aufsätze waren damals üblicherweise zweisprachig, zu dem polnischen kam noch die französische oder die deutsche Fassung hinzu. Neben wissenschaftlichen Texten verfasste Frydrychewicz auch viele populäre Artikel zum Schutz des Gartens und Waldes.

Seit 1930 verstärkte der junge Wissenschaftler die Reihen der neuen Versuchsanstalt der Staatsforste in Warschau (Zakład Doświadczalny Lasów Państwowych). Die praxisnahe Forschungsinstitution initiierte auch breite internationale Zusammenarbeit und nahm auf dem Gebiet des Naturschutzes schon damals eine Vorreiterrolle ein. Sie besteht bis heute als Instytut Badawczy Leśnictwa IBL (Forstwissenschaftliches Institut).
 

Die Vögel der Südostkarpaten

1932 und 1933 verbrachte Juliusz Frydrychewicz einige Monate in Hryniawa an der polnisch-rumänischen Grenze (heute Гри́нява in der Ukraine). „Dass in den Ostkarpathen ein Nationalpark gegründet sein soll, veranlassten mich zum Beginn eingehender ornithologischen Forschungen in dieser Gegend Polens, und die vorliegende Arbeit ist der erste Beitrag zu diesen Forschungen“, erklärte er in der dazugehörigen Publikation: Die in polnischen Südost Karpathen gesammelten Vögel = Ptaki zebrane w południowo-wschodniej części Karpat Polskich erschien 1934 auf Deutsch im ersten Band der neuen Acta Ornithologica Musei Zoologici Polonici (Nr 10.)

Hans Kummerlöwe zitierte diese Studie in seinem Artikel von 1937, in der ebenfalls neu in Leipzig gegründeten Vierteljahrsschrift für Südosteuropa, nachdem er selbst 1935 einige Zeit in der „reizvollen Landschaft der Tatra und ihres Vorlandes, der Zips und der Waldkarpathen“ verbrachte und über die Vögel der Gegend schrieb.

Der Autor, gerade im Begriff seine ein wenig stockende Karriere im neuen NS-Deutschland richtig in Fahrt zu bringen, versteckte dabei keineswegs seine völkischen Ambitionen. Sein Forschungsaufenthalt in den Karpaten war einigen „Beschränkungen“ unterworfen. Es lag, wie er berichtete, „nicht zuletzt daran, daß der Zweck meiner Reise keineswegs ausschließlich oder auch nur in erster Linie auf Naturbeobachtungen, sondern darauf abgestellt war, dem Schicksal des Deutschtums jener Gebiete nachzugehen.“

Seine Rechnung ging schnell auf. Als überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde (seit 1925 in der NSDAP) wurde Kummerlöwe 1936 Direktor der Museen für Tierkunde und Völkerkunde in Dresden. Bald darauf übernahm er die Leitung des Zoologischen Instituts an der Technischen Hochschule Dresden. Im Hinblick auf seine Ansichten zu Rassenkunde, Bevölkerungspolitik und kolonialen Aufgaben war er bald auch in Wien sehr willkommen. Im August 1939 wurde Kummerlöwe mit der kommissarischen Leitung der Wissenschaftlichen Museen dort beauftragt. Er schaffte es noch, dort die anthropologischen Untersuchungen an Kriegsgefangenen anzustoßen, bevor er 1941 zur Wehrmacht an die Ostfront einberufen wurde.

Die hektische Zeit des beruflichen Aufstiegs hinderte Kummerlöwe nicht daran, kurz nach dem Überfall auf Polen, im November 1939, eine zweiwöchige „Poleninspektion“ vorzunehmen. Zwei Wochen verbrachte er, wie auch zwei andere Museumsbeamte aus Dresden, Fritz Fichtner und Hans Posse, im Generalgouvernement, um „den Schutz und die Sicherung von Kunstwerken in den besetzten Ostgebieten“ zu betreiben.

Hier trennen sich auch alle Wege der beiden Ornithologen endgültig, oder brechen vielmehr in einem Abgrund zusammen.

Nach dem Überfall auf Polen im September 1939 kämpfte der Infanterie-Reserveoffiziere Leutnant Juliusz Frydrychewicz im Verteidigungskrieg. Im besetzen Polen war er in der Heimatarmee (Armia Krajowa) tätig, einer polnischen Widerstands- und Militärorganisation. Anfang 1944 wurde er von Deutschen verhaftet und im Lager Hamburg-Neuengamme inhaftiert. Bei der Evakuierung des Lagers fand er mit einer Gruppe polnischer Kriegsgefangener auf einem in der Lübecker Bucht barbarisch von den Deutschen versenkten Kutter am 5. Mai 1945 seinen Tod.

Hatte Juliusz Frydrychewicz den Aufsatz von Kummerlöwe überhaupt lesen können? Hatte Kummerlöwe es tatsächlich verschenkt? Im Heft aus dem Bestand der Bibliothek Forstwissenschaften in Tharandt finden sich außer der Widmung keine weiteren Hinweise, keine Bibliotheksstempel, keine Nummern, keine Besitzvermerke.

 

Ein Jubilar und ein Jubiläum

Hans Kummerlöwe kehrte nach dem Krieg weder nach Wien noch nach Dresden zurück. Doch er verfolgte unter einem neuen Namen als Hans Kumerloeve seine ornithologische Laufbahn weiter. Dank der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft konnte der Privatgelehrte aus Osnabrück mehrere Forschungsreisen auch als Studienreiseleiter unternehmen und weitere Publikationen veröffentlichen – es sollen über 400 geworden sein.

Zum 70. Lebensjahr widmeten die Bonner Zoologischen Beiträge Dr. Kumerloeve ein Festheft, um seine wissenschaftlichen Verdienste zu würdigen „und dem ungewöhnlich rüstigen Greis mit dem jugendlichen Temperament noch erlebnisreiche Jahre ungetrübter Forschertätigkeit und Freude an der Natur wünschen“, wie es der Schriftleiter Günther Niethammer ausdrückte. Und es kam wohl von Herzen. Beide Männer kannten sich seit Langem. 1942 gab Hans Kummerlöwe Niethammers Aufsatz: Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz in den Annalen des Naturhistorischen Museums Wien heraus. Seine Beobachtungen vor Ort führte das Waffen-SS-Mitglied Niethammer in den vom Wachdienst im Konzentrationslager Auschwitz viel zu seltenen freien Stunden aus, was er beklagte. Ob und was er im polnischen Gefängnis zwischen 1946 und 1949 beklagte, ist ungewiss.

Das heutige polnische Forstwissenschaftliche Institut mit dem Hauptsitz in Sękocin Stary nicht weit von Warschau beging 2015 den 85. Jahrestag seines Bestehens. Der Direktor Janusz Czerepko würdigte dabei zwölf Mitarbeiter, die während des Krieges gefallen oder in deutschen und sowjetischen Lagern ermordet worden waren. Das letzte Opfer unter den Fortwissenschaftlern war der im Mai 1945 umgebrachte Juliusz Frydrychewicz.

Der Direktor erinnerte ebenfalls daran, was 1939 am Institut selbst geschah: Während der Belagerung von Warschau 1939 wurden die Gebäude teilweise zerstört und nach der Besetzung der polnischen Hauptstadt von den deutschen Forstbehörden übernommen. Technische Geräte, wissenschaftliche Materialien und die Büchersammlung wurden Ende 1939 und 1940 nach Eberswalde und Tharandt ins Reich abtransportiert. Ein Teil der Büchersammlungen gelangte zum Deutschen Forstamt und seiner Forschungseinrichtung nach Krakau.

„Ein Wald ohne Vögel macht den Eindruck eines verlassenen und vergessenen …“, notierte Frydrychewicz 1931 in einem seiner Aufsätze. Endete in der Lübecker Bucht 1945 die Geschichte von Dr. Juliusz Frydrychewicz und seine Vision vom Anbau eines ertragreichen aber natürlichen Waldes mit Vogelgesang als Anzeichen des Lebens? Hoffentlich nicht, es liegt an uns.

„Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist?“

Veranstaltungen zum Tag der Provienzforschung an der SLUB:

SLUB coffee talk: Bücherraub?!
Mi, 10. April 2024 / 13:30 Uhr
Foyer, Zentralbibliothek

Kuratorinnenführung durch die Ausstellung "Schicksalhafte Seiten. Bücher verfolgter Jurist:innen in der SLUB Dresden"
Mi, 10. April 2024 / 16:30 Uhr
Interim Bibliothek Bergstraße/Open Science Lab, Zellescher Weg 21–25

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