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Einsteins Steuerberater – der Nationalökonom und Pazifist Dr. Otto Nathan und sein Nachlass
Die SLUB muss regelmäßig Exemplare aus ihrem Bestand aussondern deren Nutzung aufgrund ihres Zustandes nicht mehr möglich ist. Seit geraumer Zeit werden diese Exemplare routinemäßig auf Hinweise möglicher Vorbesitzer:innen geprüft.
Als ich vor zwei Jahren (im Oktober 2021) eines dieser Aussonderungsexemplare auf solche Merkmale überprüfte, fiel mir in einem Schulbuch für Altgriechisch ein in schöner Kurrentschrift abgefasster Namenszug auf: „Fritz & Otto Nathan Bingen a/Rhein“ war auf dem Buchumschlag zu lesen. „Wie kommt ein Buch von Bingen nach Dresden?“, dachte ich und begann meine Recherche mit einer Google-Suche. Das Stichwort „Otto Nathan“ brachte als ersten Treffer prompt einen Wikipedia-Eintrag! Und auch ein Bild war bei den Suchergebnissen zu sehen: ein etwas kleinerer Mann mit windzerzaustem Haar, die Brille in der einen Hand haltend, die andere in der Hosentasche – und wohl im Gespräch vertieft mit einer der berühmtesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Albert Einstein. Ungläubig öffnete ich den Wikipedia-Artikel zu Nathan: Geboren in Bingen, Nachlassverwalter und Freund Albert Einsteins. Nachdenklich legte ich das Buch zunächst zurück zum Stapel für die Weiterbearbeitung.
Seitdem vergingen einige Wochen und Otto Nathan ließ mir keine Ruhe. Also recherchierte ich ein wenig und fand heraus, dass die Privatbibliothek von Otto Nathan 1994 als Schenkung an die damals noch eigenständige Dresdner Universitätsbibliothek kam. Im „SLUB-Kurier“ erschien 1998 ein Beitrag über den Nachlass von Otto Nathan und informierte über die umfangreiche, zum Teil hochspezielle Literatur des Bestandes. Als Autoren waren Hansachim Panzner und Manuela B. Queitsch angegeben, ehemalige Kolleg:innen der heutigen SLUB. Nachdem ich eine Mail geschrieben hatte, dauerte es keine halbe Stunde, bis das Telefon klingelte. Am Apparat war Frau Queitsch, die mir begeistert von dem Fall berichtete und mir viele Informationen über den Erwerb der Bestände gab. Gemeinsam recherchierten wir weiter, konnten sogar zu Doris Nathan, Ottos hochbetagter Nichte Kontakt aufnehmen. So erfuhren wir anekdotische Einzelheiten seines Lebens und konnten uns ein genaueres Bild von diesem Menschen machen.
Doch wer war nun Otto Nathan, dessen Privatbibliothek sich heute im Bestand der SLUB befindet und etwa zehntausend Bände umfasst?
Nathan wurde am 15. Juli 1893 in Bingen am Rhein geboren. Er studierte Volkswirtschaft und Recht an den Universitäten in Freiburg und München. Nach Studium und Promotion trat er in den deutschen Staatsdienst ein, wo er den Rang eines Oberregierungsrates erreichte. Nathan war von 1920 bis 1933 Regierungsberater in Wirtschaftsfragen und nahm als Direktor der Abteilung „Forschung zu Fragen der Internationalen Wirtschaftsprobleme“ 1927 an der Delegation der Weltwirtschaftskonferenz in Genf teil. Zugleich wirkte er zwischen 1928 und 1933 als Privatdozent an der der Hochschule für Politik in Berlin und war Direktor des Konjunkturinstituts.
Da er jüdischer Konfession war, floh er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten. Dort konnte er eine Stelle als Dozent für „Economics“ an der renommierten Princeton University antreten, wo er Albert Einstein kennenlernte. Einstein war wegen eines Lehrauftrags am California Institute of Technology bereits 1932 in die USA gekommen und entschied sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, dort zu bleiben. Dort kreuzten sich nun die Lebenswege der beiden und es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.
Nicht nur in politischen und sozialen Fragen stimmten sie überein – beide waren überzeugte Pazifisten, was Nathan später in Konflikt mit den berüchtigten McCarthy-Ausschüssen brachte. Darüber hinaus übernahm Nathan die finanziellen Angelegenheiten des Physikers.
Wie groß das Vertrauen der beiden zueinander war, zeigte sich schließlich auch darin, dass Einstein in seinem Testament Otto Nathan, zusammen mit seiner langjährigen Sekretärin Helen Dukas, zum Nachlassverwalter seines intellektuellen Erbes ernannte. Für die Nachwelt war das rückblickend wohl zunächst keine gute Entscheidung, denn Nathan wachte mit Argusaugen über den Nachlass. Jahrzehntelang gewährte er kaum jemandem Einblick in die Unterlagen. Jedoch widmete er sich nach dem Tod des Freundes ganz und gar dem Aufbau eines Einstein-Archivs und verpflichtete sich selbst, den Nachlass für die Öffentlichkeit aufzubereiten. 1975 veröffentlichte Nathan gemeinsam mit Heinz Norden (einer der wenigen, denen er Zugang zum Nachlass gewährte) ein Werk über Einsteins pazifistisches Wirken (Otto Nathan, Heinz Norden (Hrsg), Albert Einstein. Über den Frieden. Bern 1975). Dabei blieb es auch, was letzten Endes zu einem Rechtsstreit mit der Princeton University führte, da er Vertragswidrig einen Mitarbeiter entließ und die Herausgabe bzw. die Veröffentlichung des Nachlasses verweigerte (siehe auch: Daumen Drauf, in: Der Spiegel 6/1981).
Als Nathan selbst schon ein hohes Alter erreichte und das Ende seiner Tätigkeit als Nachlassverwalter absehbar war, entschied er sich 1982, das Archiv und die Rechte am Nachlass an die Jewish National & University Library in Jerusalem zu übergeben – so, wie es Einstein in seinem Testament wohl selbst verfügt hatte.
Nathan selbst war ein renommierter Nationalökonom, dessen Wissen ein breites Spektrum an Themen abdeckte. Er war einer der ersten, der das Wirtschaftssystem des nationalsozialistischen Deutschlands untersuchte. Darüber hinaus stand er in reger Korrespondenz mit seinen Fachkollegen, wie der Umfang seiner Privatbibliothek zeigt. Die vielen Schenkungsexemplare mit Widmungen bestätigen, dass sein Wirken über seine fachlichen Kompetenzen hinaus hochgeschätzt wurde.
Otto Nathan starb am 27. Januar 1987 hochbetagt in New York City.
Weiterführende Informationen
- Publikationsliste im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Auswahl an Widmungen auf Kalliope
- The Albert Einstein Archives
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