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Ein berührender Gruß an die Zukunft

Selbstschnittfolien sind ein faszinierendes, aber weitgehend vergessenes Medium. Bis Anfang der 1950er Jahre wurde vor der Verbreitung des Tonbands dieses Format im Heimbereich genutzt, um mittels „Sprechbrief“ Grußbotschaften mit eigener Stimme an entfernt lebende Verwandte zu schicken. Es bot zudem die Möglichkeit für Aufnahmen im Kreis der Familie oder für Mitschnitte beliebter Melodien aus dem Rundfunk und ist somit ein Vorläufer des späteren „Mixtapes“ wie auch der heutigen Voice-Mail. Diese privaten Erinnerungen sind nun in der Mediathek der SLUB Dresden abrufbar, so auch jene von Familie Adler aus Reichstädt.

Das Plattenschneidgerät. Das Mikrofon steht auf dem rechten, offenbar nicht funktionierenden Plattenteller. (c) Familie Adler

Ein Zeitungsartikel über privat aufgenommene Schallplatten war es letztes Jahr, der Andreas Adler veranlasste, einmal in seinem Kellerregal zu kramen. Hatte er nicht einst ähnliche Platten von seinem Vater geerbt? „Solche Platten sind ja technische Dokumente, die nicht zuhause versauern sollten. Der Zeitungsartikel ebnete dann den Weg zu Ihnen, an die SLUB", erzählte Adler kürzlich beim Besuch in der Bibliothek zur Übergabe der besagten Selbstschnittfolien.

Sein Vater Erich Adler, (geb. 1919) hatte bei Zeiss-Ikon als Feinmechaniker gelernt und dort ein seltenes Werksstipendium ergattert. Aber dann kam der Krieg; Erich Adler diente als Funker beim Militär. Nach Kriegsende wurde er als Neulehrer nach Reichstädt bei Dippoldiswalde geschickt. Dort beschäftigte er sich als interessierter Laie eine Zeit lang mit dem Plattenschneiden. Dabei zeichnete er auf einem Aufnahme- und Wiedergabegerät der Marke Wuton (Wort-und-Ton) von der Firma H. A. H. Schüler aus Wurzen die Klänge seiner Umgebung auf Plattenrohlinge auf. Als Referenzobjekte dienten dabei die Hausbewohner, ob nun Familienmitglieder oder die Mitbewohner in der ehemaligen Kantorenwohnung, Flüchtlinge aus Oberschlesien. 

„Ich vermute, mein Vater hatte das Aufnahmegerät über den Sender Dresden bekommen und damit dann ausgiebig experimentiert. Er machte Radioaufnahmen, variierte Lautstärken und die Entfernung vom Mikrofon, spielte Mundharmonika und Flöte (‚oh, das pfeift aber gewaltig!‘). Oder er bat Familienmitglieder, einmal etwas vorzulesen, einfach damit er ein Signal hatte. Tongenerator, Oszilloskop, Kondensatormikrofon – alles hatte er selbst gebaut! Mit der Aufnahmetechnik nahm er dann zum Beispiel die Frau Niebusch auf. Sie wurde gebeten, etwas über das Federschleißen zu erzählen – ein Ritual im Winter, wenn viel Zeit war. Die Weihnachtsgänse wurden dann gerupft und die Federn vom Kiel getrennt, um die weichen Federkissen füllen zu können."

Und: Andreas Adler hat auch eine Aufnahme seiner Vorfahren wiedergefunden, die ihn beim Abspielen im Videolabor der SLUB sehr berührt hat. Auf einer Folie hat Erich Adler einen „Gruß an die Zukunft" aufgenommen. Er ist an diejenigen gerichtet, „die uns vielleicht in einigen Jahrzehnten nicht mehr [persönlich] hören können. Wir wollen mal alle recht schön grüßen... Versammelt sind: die Urgroßmutter, die Großmutter, die Mutter, das Kind [Andreas], die Tante und meine Wenigkeit. Durch die zeitbedingten Umstände kann nicht die gesamte Familie beisammen sein. Deswegen muss man die Gelegenheit ausnutzen und durch Schallplatte und Fotografie Erinnerungen für spätere Zeiten schaffen..." 

Diese privaten Erinnerungen sind nun, mehr als siebzig Jahre nach ihrer Aufnahme in Reichstädt, für alle Interessierten in der Mediathek der SLUB Dresden abrufbar. Sie zeugen von einer Zeit kurz vor dem Triumphzug des Tonbands und lange vor dem Smartphone, als private Tonaufnahmen noch seltene, kostbare Schätze darstellten. Für uns Heutige, die wir von unseren Großeltern gefilmte Alltagsvideos in der Whatsapp-Familiengruppe auftauchen sehen, tatsächlich ein berührender Gruß wie aus einer anderen Welt...
 

Zum Anhören: Die Aufnahmen der Familie Adler in der SLUB-Mediathek


Neue Ausstellung in der SLUB Dresden zeigt Film- und Tonschätze aus Sachsen

Seit 2019 engagiert sich die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden im Rahmen des Programms „Sicherung des audiovisuellen Erbes in Sachsen“ (SAVE) für die Sicherung, Digitalisierung und Bereitstellung historischer Film-, Video- und Tonaufnahmen aus dem Freistaat. In Zusammenarbeit mit dem Filmverband Sachsen konnten so bereits über 85.000 Spielminuten bzw. 1.900 Filmrollen, Ton- und Videobänder mit einem Datenvolumen von 95 Terabyte bearbeitet und, wo möglich, der Öffentlichkeit rechtssicher zur Verfügung gestellt werden. Es handelt sich um bisher kaum bekannte Aufnahmen aus dem sächsischen Alltagsleben der vergangenen 100 Jahre, die in Museen, Archiven, Bibliotheken und privaten Sammlungen lagern – Amateurfilme über das persönliche Lebensumfeld und Reisen in die Welt, ethnografische Studien oder experimentelle Kunst, die in Sachsen abseits einer großen Öffentlichkeit entstanden sind.

„Der bewahrte Blick. Film- und Tonschätze aus Sachsen“ vom 20. April 2023 bis 6. Januar 2024, Ausstellung in der Corty-Galerie und der Schatzkammer der SLUB (Zellescher Weg 18, 01069 Dresden). Montags bis freitags von 10:00 bis 18:00 Uhr sowie samstags von 14:00 bis 18:00 Uhr, umfangreiches Begleitprogramm mit Führungen und Veranstaltungen. Der Eintritt ist frei.


 

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